ALS DA-MANCHMAL-RUMLAUFER AM KAISER-WILHELM-PLATZ UNTERWEGS : Wo das Kochhaus auf die Back-Factory und den Öz-Gida-Supermarkt trifft
VON DIRK KNIPPHALS
Kein Flaneur mag den Begriff „Flaneur“. Das klingt so gewollt, leicht nach Schmierenkomödie und irgendwie nach Möchtegern. Aber was wäre dann ein guter Begriff? Stadtspaziergänger, so wird der Schriftsteller David Wagner in seinem Band „Welche Farbe hat Berlin“ genannt. Ethnologe des Inlands, diese Wendung hat Michael Rutschky mal aufgebracht. Angewandter Stadtsoziologe, nun gut, das hab ich mir jetzt schnell ausgedacht. Aber wie immer man sich nun auch nennt, eins ist klar: Der Feind, das sind die Trendjournalisten. Als Trendjournalist hat man immer nur zwei Erzählmodi. Etwas ist „in“, etwas ist „out“; etwas boomt, etwas ist verschnarcht; etwas kommt, etwas geht. Aber wer nur halbwegs aufmerksam durch die Straßen Berlins läuft und wenigstens manchmal darüber nachdenkt, was ihm dabei nun aufgefallen ist, weiß, dass man mit so einem schlichten bipolaren Denken nicht weit kommt. Jedes Detail enthält Vielheiten!
Zum Beispiel am Kaiser-Wilhelm-Platz in Schöneberg. Nun gut, als 2009 die dort gelegene Hertie-Filiale endgültig geschlossen wurde, hatte man als Da-manchmal-Rumlaufer zunächst tatsächlich schlichte Szenarios im Kopf. Würde es hier bald nur noch diese billigen 1-Euro-Kaufhäuser geben? Aber das erledigte sich dann wieder schnell. Und inzwischen entwickelt sich dieser Platz in alle möglichen Richtungen. Wer jetzt Schöneberg-Boom sagt, wird nur auf ein müdes Abwinken stoßen: Eh klar, aber was heißt das denn jetzt genau? Sollte jemand mal auf die Idee kommen, Grundkurse in Stadtspaziergängerei anzubieten, könnte er gut hier an der Ecke anfangen.
Man stelle sich nur einmal an die Ecke Akazienstraße/Hauptstraße. Das „Kochhaus“, vor dem man dann steht, könnte gut als Beispiel für das Toben der Gentrifizierung in der Gegend herhalten. Kochutensilien und Zutaten für den gehobenen Bedarf. Aber direkt daneben gibt es eine „Back-Factory“. Effizient hergestellte Backwaren für den kleinen Geldbeutel. Also doch eher Prekarisierung? Wenn man jetzt allerdings einmal wirklich genau guckt, wird man feststellen, dass dieses Bürgerlichkeits-/Prekaritäts-Schema, das man unwillkürlich angelegt hat, im Grunde gar nicht trifft. In der Back-Factory sitzen Geschäftsleute, die es eilig haben. Und im Kochhaus kann man sich für 2,90 Euro pro Person alle Zutaten für ein okayes Mittagessen zusammenkaufen. Fussili mit Babyspinat und Ricottasoße. Und zum Beispiel für 7,80 Euro pro Person kriegt man alle Zutaten für etwas Gutes: Entenbrust mit gebackenem Hokkaidokürbis und Ingwer-Orangen-Soße.
Überhaupt ist es etwas sehr Seltsames mit diesem Kochhaus. Zunächst gruselt es einen schon. Diese furchtbar geschmackvolle Musik! Dieses Schöner-Wohnen-Ambiente! Wer Leif Randts Roman „Schimmernder Dunst über Coby County“ gelesen hat, weiß, was ich meine. Aber eigentlich ist es doch ein gute Idee, zumindest wenn’s mal schnell gehen muss, alles, was man für ein Essen braucht, genau richtig portioniert einzukaufen.
Und der Kaiser-Wilhelm-Platz hat noch viel mehr Details anzubieten. 300 Meter vom Kochhaus entfernt liegt der Öz-Gida-Supermarkt, der mit dem Slogan wirbt, der „erste deutsch-türkische Supermarkt Berlins“ zu sein. Das Angebot ist wirklich klasse: frisches Obst und Gemüse, Pasten, Tees und Kräuter ohne Ende und, wenn’s denn wirklich sein muss, auch Nutella und Hohes C. Ein Multikultitraum. Wenn einem das Kochhaus dann doch irgendwie zu mittig vorkommt, kann man halt hierhin gehen. Es gibt jedenfalls zu viele Trends an diesem Platz, um sie unter einen Hut zu kriegen.