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Archiv-Artikel

ALLTAGSGEWALT AN SCHULEN: MIT MORDEN HAT SIE NICHTS ZU TUN Schläger, Pauker, Pädagogen

„Schulschläger wirken körperlich reifer und attraktiver. Opfer haben nicht selten Pickel.“ Es ist schon erstaunlich, auf welch flache Vorurteile auch hochkomplexe Forschungsdesigns zusammenfallen können. Gestern haben zwei Psychologen ihre Erkenntnisse über Kriminalität in der Schule ausgebreitet, die sie in einer mehrjährigen Studie ermittelten. Aber keine Sorge: So simpel, wie es klingt, waren die Ergebnisse aus dem sozialwissenschaftlichen Feldversuch gar nicht. Was sie brachten, ist dreierlei.

Erstens können wir nichts lernen für Coburg, Erfurt, Meißen oder wie die anderen Orte für Amoktaten alle heißen mögen. Gewalt in der Schule, wie sie tagtäglich in deutschen Schule geschieht, ist das eine. Coburg aber, wo gestern ein 16-Jähriger plötzlich mit Waffen herumfuchtelte, um sich schließlich selbst zu erschießen, ist etwas ganz anderes. Die Motive, warum ein Jugendlicher andere Schüler in der Schule bedroht, herabwürdigt oder beschimpft, sind überhaupt nicht vergleichbar mit dem, was sich bei (Selbst-)Mordtaten wie der gestrigen zuträgt. Während die einen Gewalttäter nämlich ganz offen und regelmäßig ihren Kampf um Anerkennung in der Schule fechten, brodelt es in den anderen lange und heimlich vor sich hin – ehe sie einmal, dann aber final zuschlagen.

Zweitens sollten wir endlich aus den Erkenntnissen der Gewaltforscher lernen für den manchmal ziemlich brutalen Schulalltag. Die Autoren der neuesten Studie belegten mit den Interviews und Rollenspielen, die sie mit den gefährdeten Kids in der Schule veranstalteten, dass die Atmosphäre in der Schule den Unterschied macht. Ob Jugendliche zu Hause unverträglich, unnachgiebig, dominant und zielorientiert erzogen werden, können Lehrer nicht beeinflussen. Aber sehr wohl hängt es von ihnen ab, mit welcher Art von Belehrung, Disziplinierung und/oder Herabstufung sie den Druck in Kopf und Seele der kleinen schweren Jungs erhöhen. Pauker oder Pädagoge, das ist kein einfacher Gegensatz, sondern ein wichtiger.

Noch bedeutender als die Pädagogik der Lehrer aber ist die soziale Auswahl, mit der sie es in der Schule zu tun haben. Auch hier ist die Studie aufschlussreich – denn sie zeigt, dass es in manchen Gegenden Deutschlands eine beinahe optimale Auswahl für Schulgewalt gibt: die Haupt- und die Restschulen. Dort versammelt das Land über seine Ideologie der Auslese die sozial und kognitiv Benachteiligten – und wundert sich hinterher, dass kein gutes Klima an solchen Schulen herrscht. Regelrechte Zuchtkulturen für gewalttätige Jugendliche gibt es in Deutschland, und es wird Zeit, dass wir sie endlich abschaffen. Das ist die Quintessenz der neuen Studie. CHRISTIAN FÜLLER