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Archiv-Artikel

AFGHANISCHE VERFASSUNG: WAS BEDEUTEN ISLAM UND SCHARIA? Machtkampf um den Inhalt

Über ein Jahr hat eine Kommission an der neuen Verfassung für Afghanistan gearbeitet. Immer wieder hatte sie die Veröffentlichung verschoben, weil starke Interessengruppen noch um einzelne Bestimmungen im neuen Grundgesetz rangen. Herausgekommen sind Kompromisse. Wie die Formulierungen letztlich lauten und vor allem wie sie ausgelegt werden, dürfte von weiteren Machtkämpfen abhängig sein.

So betont der Entwurf ausdrücklich, dass die Verfassung auf „islamischen Prinzipien“ beruht und kein Gesetz der „heiligen Religion des Islams“ widersprechen dürfe. Andererseits wird die Gleichberechtigung von Männern und Frauen festgelegt. Ob dies ein Widerspruch ist, hängt von der Interpretation des Islams ab. Manche sehen in seinen Glaubensgrundsätzen per se eine untergeordnete Rolle der Frau verankert, andere halten dies nur für eine Interpretation rückwärtsgewandter Fundamentalisten.

Ebenso verhält es sich mit der Scharia, dem islamischen Recht. Zwar wird sie nicht namentlich erwähnt, doch lässt sich der Entwurf auf Wunsch so interpretieren, dass die Scharia maßgeblich wird. Dabei bleibt aber offen, was mit Scharia gemeint sein könnte. Wird der Begriff im Westen oft reflexartig mit mittelalterlichen Amputationsstrafen und Steinigungen gleichgesetzt, ist er in der Region eigentlich nur ein anderer Name für islamisches Recht. Auch dies muss erst mit Inhalt gefüllt werden und kann, zum Beispiel im Vergleich zum traditionellen Stammesrecht, durchaus ein Fortschritt sein.

Der jetzige Entwurf ist ein flexibles Konzept, das zum Teil widersprüchliche Positionen abzudecken versucht. Ob das Papier im Dezember von der Stammesversammlung, der Loja Dschirga, abgesegnet wird, hängt von ihrem Umgang mit den Islamisten ab. Die Fundamentalisten könnten die Verfassung umso stärker beeinflussen, je länger die Versammlung dauert. Der Entwurf gibt den demokratischen Kräften eine Chance. Er zeigt aber auch: Afghanistans Zukunft ist noch nicht entschieden. SVEN HANSEN