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Archiv-Artikel

ACH, ABENDROT Weit im Osten

Es klang ein bisschen wie Pissnelke, nur zärtlicher

„Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen“ – was für ein hübsches Lied. So oft habe ich es gehört, aber noch nie bin ich richtig segeln gewesen. Das bisher einzige Mal auf dem Seddiner See in einem Bötchen, das einer Plastikwanne glich, zählt nicht wirklich. An einem der ersten warmen Frühlingssonntage in diesem Jahr bin ich richtig segeln gegangen! Es geschah am Zeuthener See. Dazu fuhr ich mit der Straßen- und der S-Bahn in den Südosten der Stadt. Es war eine Zeitreise. Eine Reise in die Vergangenheit. Es ging nicht nur in den ehemaligen Osten. Es ging in den Osten nach dem Osten. Mit jedem Kilometer, den ich rausfuhr, trugen die Geschäfte seltsamere Namen. „Haralds Getränke-Insel“, „Hotel Mit-Mensch“, „Sansi-Bar“. An vielen Läden stand „Zu vermieten“. Eine Kleingartenanlage hieß weiter tapfer „Fortschritt“.

Am Zeuthener See, beim Anblick eines schönen alten Segelbootes, dessen Dielen ich schon von Weitem knarren zu hören meinte, war alle Tristesse vergessen. Das Boot hatte ungefähr das gleiche Baujahr wie ich: also bestens in Schuss, nur etwas pflegebedürftig. Das Boot trug einen lustigen Namen. Der klang irgendwie berlinerisch, und ich hatte das Wort noch nie gehört. Deshalb bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Es klang ein bisschen wie Pissnelke, nur zärtlicher. Piselke, Pikalske, Paschulke? Ich glaube, es war Piselke.

Weil das Leben nur selten ein Lied ist, war „mein Süßer“ nicht mein Süßer, sondern ein guter Freund, ein ehemaliger Fernsehjournalist, der vor einiger Zeit bei der Neuköllner Blutwurstmanufaktur eingestiegen ist. Als ebenfalls großer Blutwurstfan hatte ich eine Blutwurstquiche gemacht. Nach Dutzenden Malen halsen und wenden gingen wir vor Anker und ich packte das Essen aus. Da war es auf einmal dann doch wie in dem schönen Lied vom Segeln – „und dann beim Abendrot mach ich das Abendbrot“. BARBARA BOLLWAHN