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400.000 arbeitslose „Staatsdiener“ im Osten

■ Auslaufende Warteschleife und Umstrukturierung als Ursachen angeführt/ Tarifvertrag zur sozialen Absicherung gefordert

Stuttgart. Mit bis zu 400.000 Entlassungen im öffentlichen Dienst Ostdeutschlands rechnet die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Der ÖTV-Hauptvorstand nannte neben der Ende Juni bis in den Herbst stufenweise auslaufenden Warteschleife die Umstrukturierung in den Betrieben und Verwaltungen der neuen Länder als Auslöser. Die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf- Mathies forderte die Arbeitgeber von Bund, Ländern und Gemeinden zum Abschluß eines Tarifvertrags zur sozialen Absicherung der Beschäftigten auf.

Wulf-Mathies warf den Arbeitgebern vor, bislang „nur kurzsichtig und konzeptionslos“ auf die Entwicklung zu reagieren. Ein Tarifvertrag müsse die Ansprüche der „Staatsbediensteten“ auf berufliche Fortbildung regeln und ihnen Möglichkeiten zum freiwilligen Ausscheiden geben. Analog zu den Vereinbarungen in Treuhandbetrieben müßten auch für den öffentlichen Dienst Sozialpläne mit einem Mindestvolumen von 5.000 Mark für jeden Beschäftigten vereinbart werden.

Die Warteschleife, die mit der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990 in Kraft trat, ist in der Anlage zum Einigungsvertrag geregelt. Sie sieht vor, daß die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im Osten für die Dauer von sechs oder neun Monaten in den Wartestand versetzt werden können und ohne Arbeitsverpflichtung 70 Prozent ihrer früheren Bezüge erhalten. Nach dieser Wartezeit laufen die Arbeitsverhältnisse automatisch aus. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April dieses Jahres ist die Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar, sofern soziale Härten für besonders betroffene Arbeitnehmer wie Schwangere, Schwerbehinderte, ältere Mitarbeiter oder Alleinerziehende gemildert werden.

Für mehrere Tausend „Staatsbedienstete“ endete die Warteschleife bereits Anfang April. Viele Beschäftigte wurden aber erst zu Beginn dieses Jahres oder später eingeklinkt, so daß deren Arbeitsverhältnisse Anfang Juli beziehungsweise stufenweise im Herbst auslaufen. Von den in der Beschäftigungsstatistik der DDR im August 1990 ausgewiesenen 1,9 Millionen Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst wurden nach Expertenschätzungen bislang rund 300.000 entlassen oder in die Warteschleife geschickt. Gegenwärtig werden in Ostdeutschland etwa 1,6 Millionen Staatsbedienstete gezählt.

Nach Auffassung der ÖTV enthält das BVG-Urteil Stoff für mehrere Tausend Arbeitsgerichtsprozesse. Als Grund führte die Gewerkschaft die Wortwahl der Warteschleifenregelung an, wonach Kündigungen nur im Fall der „Abwicklung“, also der Auflösung ehemaliger DDR-Behörden, ausgesprochen werden dürfen. „Eine Überleitung auf einen anderen Hoheitsträger kann nicht als Auflösung verstanden werden, wenn die Einrichtung tatsächlich erhalten bleibt“, heißt es dazu in der Karlsruher Entscheidung. Daraus ergibt sich laut ÖTV, daß Kündigungen nach der Warteschleifenregelung unzulässig sind, wenn Behörden lediglich umgetauft oder in ihren Funktionen verändert werden. In diesem Sinne entschied in einem vergangene Woche veröffentlichten Urteil auch das Berliner Arbeitsgericht (Aktenzeichen: 63CA10210/90). Es kam zu dem Schluß, daß eine Betriebsauflösung dann nicht vorliegt, wenn beispielsweise eine Behörde in irgendeiner Form von der Bundesrepublik, dem Land oder einer Gemeinde weitergeführt wird. ap

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