24 stunden spreebogen, folge 20 : Von 19 bis 20 Uhr
Es wird Zeit. Ich muss jetzt da rauf. Trotz Höhenangst, trotz Unlust, mich in die Schlange zu stellen. Ohne die Kuppel geht es nicht. Keine Betrachtung über das Berliner Regierungsviertel ist vollständig, die sich nicht in irgendeiner Weise zu ihr ins Verhältnis setzt. Wie wichtig sie ist, sieht man aus beinahe jeder Perspektive. Nicht nur nimmt sie dem Reichstagsgebäude jede Schwere. Sie ist auch der zentrale Blickfang des Spreebogens – vor allem abends und nachts, wenn sie von innen beleuchtet durch die Dunkelheit glüht.
Ein Publikumserfolg ist die Kuppel sowieso. Auch am Abend steht man noch zehn Minuten an – bis man zu dem Schild kommt, auf dem man liest: „Ab hier 30 Minuten.“ Vor mir in der Schlange wird deutsche Geschichte memoriert, man erfährt einiges über das Schicksal bayerischer und württembergischer Herrscherhäuser. Hinter mir haben junge Spanier großen Spaß. Es geht in Schüben vorwärts. Alle 15 Minuten werden ungefähr hundert Menschen in eine Schleuse gequetscht, von der aus man dann einzeln eine Sicherheitsschranke passiert. Auch dabei ist Lockerheit zu registrieren. Das Sicherheitspersonal, mit dem man als Tourist zu tun bekommt, trägt Dauerwelle oder Bürstenhaarschnitt; man versucht sich an flotten Sprüchen. „Wir wollen den jungen Mann doch nicht so unter Stress setzen“, sagt eine, als ich nicht schnell genug Geldbörse, Handy, Schlüssel, USB-Stick, Hustenbonbons und Tempo-Packung zurück in die Hosentaschen stecken kann. Amerikanische Touristen sind von der Freundlichkeit beeindruckt: „Nice guys!“, sagt eine.
Dann: Fahrstuhl, Dachterrasse, das beeindruckende Lichtermeer der großen Stadt, dann rein in die Kuppel, den Wendelgang hinauf, zwischendurch Durchblicke auf den Plenarsaal und den Bundesadler. Und alle fotografieren ständig alles; junge Leute auch gerne sich selbst, indem sie ihre Handys am langen Arm weg von sich halten.
Muss man das alles noch patriotismustheoretisch hochmodulieren? Die Stimmung hier oben hat jedenfalls eher etwas von Familienausflug als von einem weihevollen Besuch im Zentrum der Macht. Allen ist klar: Von hier und heute werden garantiert keine schicksalsschweren Entscheidungen ausgehen. Aber ohne die Aura der Macht kann man das Gefühl auch nicht beschreiben, das einen hier oben ergreift. Ein Moment von Erleichterung ist auch dabei – Erleichterung darüber, in einer Zeit zu leben, die sich so eine lichte Besucherplattform im Herzen der Politik leistet. Hoffentlich bleibt sie noch lange auf. DIRK KNIPPHALS
Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 20 bis 21 Uhr: am 10. 11.