: Umrisse des normalen Lebens
BEOBACHTENDE TEILNEHMER Wie viel Mühe in diesen Beeten, Zäunen, Rabatten und Hecken steckt! Bei dem Debütanten Stephan Thome findet die deutsche Literatur Anschluss an den US-amerikanischen Vorortroman – „Grenzgang“
VON DIRK KNIPPHALS
Es erzählt nicht das Entscheidende, wenn man sagt, dass dieser Roman vom Leben in der deutschen Provinz handelt, von normal halbgescheiterten Lebensentwürfen und von den inneren Kämpfen (Fluchtgedanken, Regressionswünsche, Fragen, wie alles überhaupt so gekommen ist), die Menschen mit sich austragen können, wenn sie einmal aufgebrochen waren, ein eigenes Leben zu führen, um dann aber schließlich doch in ihrem Heimatkaff hängenzubleiben.
Das Entscheidende liegt in der Perspektive. Es lohnt sich, einen Blick auf die Schreibsituation zu werfen. Stephan Thome, der Autor, 1971 geboren, fand sich 2005 als Universitätsdozent in Taipeh wieder; eine dieser Lebenswendungen, die einem heutzutage offenbar widerfahren können. Taiwan also. Fremdheitsgefühle. Stephan Thome reagiert, indem er nach der Arbeit sich Abend für Abend an den Schreibtisch setzt und seinen ersten Roman schreibt, 450 Seiten dick, penibelst durchstrukturiert – über einen Ort namens Bergenstadt, in dem, leicht verklausuliert, sein Heimatort in der westdeutschen Provinz klar erkennbar wird.
Man ist gewohnt, sich das umgekehrt zu denken: dass sich jemand aus der provinziellen Enge in die weite Welt hinausträumt. Thome hat sich aus der Welt in die gewachsenen Strukturen der deutschen Provinz zurückgeträumt. Aber er tat es anhand von Figuren, die sich hier fremd fühlen. „Wie viel Mühe in all diesen Beeten, Zäunen, Rabatten und Hecken steckt. Was für ein unangefochtener Begriff von Zuhause dem zugrunde liegen muss!“, lässt Thome seinen Protagonisten Thomas Weidmann, seine männliche Hauptfigur, denken. Sobald einem so etwas auffällt, ist der Begriff von Zuhause nicht mehr unangefochten.
Von einem Sichwiederfinden in der Provinz handelt der Roman. Aber die Erzählhaltung handelt erst einmal von Verlusterfahrungen; sie hat etwas Sichumblickendes, als müsse sie sich nach dem Verlieren einer selbstverständlichen Einbettung erst einmal wieder neu orientieren. Wenn der titelgebende Grenzgang beschrieben wird – ein nur alle sieben Jahre stattfindender dreitägiger lokaler Brauch mit Dorffestcharakter –, gewinnt der Roman beinahe ethnologische Qualitäten. Aber der Begriff der teilnehmenden Beobachtung trifft für seine Hauptfiguren nicht richtig. Eher geht es für sie darum, sich bei der Teilnahme am kleinstädtischen Leben gesteigert selbst zu beobachten. Auf die ganz normalen Verlusterfahrungen, die sie machen, reagieren die Figuren mit gesteigerter Selbstreflexion – und Stephan Thome breitet sie in diesem Roman in aller Ruhe aus.
Im Grenzgang werden die Grenzen von Bergenstadt von der ganzen Bevölkerung abgeschritten. Der Roman dagegen umschreitet die Umrisse und auch die Grenzen zweier Lebensentwürfe.
Da ist dieser Thomas Weidmann. Er hatte sich von der Provinz aus in die Hauptstadt aufgemacht, um am Historischen Institut der Humboldt-Universität Karriere zu machen. Doch seine Habilitationsstelle wird nicht verlängert. In einer Reaktion zwischen Akzeptanz und Panik – bei Stephan Thome ist kein Gefühl ganz rein – kehrt Thomas Weidmann nach Bergenstadt zurück. Er wird Lehrer am Gymnasium des Ortes und stellt sich auf ein Singleleben im höchstens Halbgeglückten ein.
Dann ist da Kerstin Werner, die weibliche Hauptfigur. Sie wurde von ihrem Mann verlassen (für eine Jüngere), und lebt nun mit ihrem pubertierenden Sohn und ihrer Mutter (ein Pflegefall) in einem nicht geliebten Eigenheim, das aber wenigstens einen schönen Garten hat. Auch sie muss sich mit einem Leben anfreunden, das sie so nicht gewollt hat. Durchschnittsexistenzen. Das normale Leben in seinen Kompliziertheiten.
Zwischen diesem Thomas Weidmann und dieser Kerstin Werner (die Namen gehören nicht zu den Stärken des Buches) schaltet Stephan Thome hin und her, mal erzählt er aus der einen, mal aus der anderen Perspektive. Selbstverständlich wird es – da sind beide Mitte Vierzig – darum gehen, ob die Hauptfiguren zueinander finden und miteinander einen Lebensneustart hinkriegen werden. Aber erst einmal werden ihre bisherigen Leben ausgeleuchtet. Eingebettet ist das in eine interessante Erzähldramaturgie. Stephan Thome erzählt unchronologisch und in Sieben-Jahres-Sprüngen im Wesentlichen immer nur, was während der jeweiligen Grenzgänge geschehen ist. Das gibt der Lektüre auch im Handwerklichen eine artistische Ebene.
Mechanik der Gefühle
Der Roman hat einige Schwächen. Sprachlich hat der Beschreibungswille auf der Satzebene gelegentlich noch nicht zur richtigen Form gefunden. Manchmal trägt die Erzählstimme Stephan Thomes zu dick auf. Dass das ein Debüt ist, merkt man aber auch daran, dass Thome im Zusammenkommen seiner beiden Hauptfiguren allzu sehr einer Mechanik der Gefühle vertraut. Da muss dann jede Gefühlsregung motiviert werden, vor allem eine im Mittelteil wichtige Episode in einem Swingerclub wird musterschülerhaft vor- und nachbereitet.
Aber die Stärken überwiegen um Längen. Sie liegen in der Sorgfalt, mit der Stephan Thome diese Lebensschicksale ausbreitet. Bei Thomas Weidmann erfährt man ganz nebenbei viel über die Mühen eines Aufsteigerlebens, ein in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur unterschätztes Thema. An einem erfolgreichen, in Berlin-Charlottenburg aufgewachsenen Kollegen bewundert Weidmann, dass er „diese Ironie in sich trug, die weder bemüht wirkte noch mit Ressentiment durchsetzt war. Die angeborene Begabung, nicht beeindruckt zu sein, sondern allem auf Augenhöhe zu begegnen, ohne zu blinzeln.“ Er selbst, der Provinzler, muss sich dagegen immer anstrengen. So erlebt er die Rückkehr nach Bergenstadt auch als Entlastung: „In Bergenstadt machte man nicht das Beste aus seinem Leben, und er mochte das.“
Bei Kerstin Werner kann man dagegen studieren, was es heißt, wenn das Beste am Leben sowieso erst einmal außer Reichweite ist. Emanzipation und auch Glück sind nur in Graustufen vorstellbar. Das kann man desillusioniert finden. Oder auch endlich erwachsen.
Aber auch das provinzielle Leben ist sorgfältig nachgezeichnet; man möchte attestieren, dass mit diesem Roman die deutsche Literatur endlich den Schritt von der Dorfliteratur zum US-amerikanischen Vorstadtroman geschafft hat. Es gibt in diesem Bergenstadt keine skurrilen Nebenfiguren, keine rauen, aber ehrlichen Häute, keine Wachtmeister Krauses, auch kein stilles Glück im Winkel. Diese Provinz ist längst modern! Niemand, auch die Bäckereiverkäuferin, ist hier identisch mit sich, es sieht nur von außen manchmal so aus.
Stephan Thome betrachtet sich, mit einem Wort John Updikes gesagt, als literarischen Spion im Deutschland „des Durchschnitts, der öffentlichen Schulen, der Supermärkte“. In einer Szene fängt Thome die Traurigkeit des Durchschnittslebens in einem halb vertrockneten Brokkoli im Supermarkt ein. Aus der Distanz Taiwans und manchmal auch der Reflexion sieht sogar ein Brokkoli interessant aus.
■ Stephan Thome: „Grenzgang“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, 454 S., 22,80 Euro