: Ein Prozent genügt
RECHT Das Bundesverfassungsgericht kippt nach der Fünfprozenthürde auch die Dreiprozenthürde bei der Wahl zum Europaparlament. Das Urteil wird aber nur von einer knappen Richtermehrheit getragen
■ Rein: Auch die NPD könnte vom Karlsruher Urteil profitieren und mit einem Mandat im Europaparlament rechnen. Bei der Bundestagswahl im September erzielte sie 1,3 Prozent der Stimmen. Bei der Europawahl würde das für einen Sitz genügen, den dann der Spitzenkandidat und Ex-Parteichef Udo Voigt erhielte. Er hatte sich im Januar gegen den amtierenden Parteivorsitzenden Udo Pastörs durchgesetzt.
■ Raus: Sollte die NPD vom Bundesverfassungsgericht verboten werden, würde Vogt das Mandat allerdings sofort verlieren. Das sieht das Europawahlgesetz vor (§ 22). Auch ein Parteiaustritt würde dem Abgeordneten nichts nützen. Da nach NPD-Angaben auch alle anderen Bewerber der NPD-Liste Parteimitglieder sind, könnte niemand nachrücken. Der Platz bliebe dann unbesetzt, fiele auch nicht an eine andere Partei.
■ Klage: Voigt könnte allerdings beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen den Mandatsverlust klagen. (chr)
AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH
Bei der Europawahl am 25. Mai werden die deutschen Abgeordneten ohne Sperrklausel gewählt. Das Bundesverfassungsgericht hat die im letzten Sommer beschlossene Dreiprozenthürde jetzt für grundgesetzwidrig erklärt. Geklagt hatten 19 Kleinparteien, darunter die Piraten, die Freien Wähler und die NPD. Um eines der 96 deutschen Mandate im Europaparlament zu erreichen, ist rechnerisch also nur noch rund ein Prozent der Stimmen erforderlich.
Im Kern bestätigten die Richter ihr Urteil vom November 2011. Damals hatten sie die bis dahin bestehende Fünfprozenthürde bei Europawahlen beseitigt, da diese Gleichheit der Wahl und Chancengleichheit verletzte, weil Stimmen für kleine Parteien unter den Tisch fielen.
Die Rechtfertigung von Prozenthürden, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments sichern sollen, passe bei EU-Wahlen nicht. Im Europaparlament seien 162 Parteien vertreten, die sich aber zu sieben Fraktionen zusammenfinden. Es sei gut möglich, dass zusätzliche deutsche Kleinparteien in einer dieser Fraktionen aufgenommen würden. Außerdem wähle das Parlament keine Regierung, die auf seine kontinuierliche Unterstützung angewiesen ist. Deshalb werde oft mit wechselnden Mehrheiten abgestimmt.
Damals wollte der Bundestag nicht wahrhaben, dass das Urteil für jede Sperrklausel gilt und beschloss einige Monate später mit den Stimmen von Union, SPD, Grünen und FDP eine Dreiprozenthürde für Europawahlen. Auch eine neue Begründung wurde geliefert: Bei der Wahl des Präsidenten der EU-Kommission müsse das Ergebnis der Europawahl berücksichtigt werden.
Deshalb stellten die europäischen Parteien jetzt erstmals EU-weite Spitzenkandidaten auf. Dies führe im Wahlkampf zu einer Frontstellung von Christ- und Sozialdemokraten und nach der Wahl zur Herausbildung einer Art Regierungsmehrheit und Opposition. Die Funktionsfähigkeit des Parlaments sei dann aber gefährdet, wenn es zu viele fraktionslose Abgeordnete gebe.
Karlsruhe reagierte im Ton freundlich – aber in der Sache bestimmt. Das Vorgehen des Bundestags habe zwar nicht die Bindungswirkung des Urteils von 2011 verletzt, da die Hürde ja abgesenkt und neu begründet wurde. Aber die Richter hielten an ihrer Argumentation von 2011 fest: Auch eine Dreiprozenthürde verzerre das Wahlergebnis, weil Stimmen für Parteien, die zwischen einem und drei Prozent erzielen, nicht zu den rechnerisch zustehenden Mandaten führen.
Die vom Bundestag und vom Europaparlament erwartete Herausbildung einer festen Mehrheit und Minderheit im EU-Parlament sei keineswegs sicher. Es könne auch sein, dass Christ- und Sozialdemokraten weiter zusammenrücken, weil nur so Mehrheiten gegen die erwartete große Gruppe der Europagegner möglich sein werden.
Das Urteil fiel mit fünf zu drei Richterstimmen. Richter Peter Müller (Ex-CDU-Ministerpräsident des Saarlands) schrieb als Stimme der Minderheit ein Sondervotum. Nach seiner Meinung hätte Karlsruhe von einer Funktionsgefährdung des Europaparlaments ausgehen müssen. Die Prognosen des Bundestags hätten nicht durch die der Richter ersetzt werden dürfen. Die Mehrheit sah dies jedoch anders. Bei Wahlrechtsfragen müssten Prognosen streng kontrolliert werden, weil hier die Parteien „in eigener Sache“ entscheiden.
Damit sind Prozenthürden bei Europawahlen aber nicht auf ewig verboten. Sollte sich wegen der deutschen Kleinparteien in Zukunft doch eine Funktionsstörung im Europaparlament ergeben, könne der Bundestag für die folgende Wahl ja das Wahlrecht ändern und doch eine Hürde einführen, so das Karlsruher Urteil. Az.: 2 BvE 2/13 u. a.