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Archiv-Artikel

Wir Gentrifizierer

FESTIVAL Welche Verantwortung hat die Kunst als Spiegel gesellschaftlicher Prozesse? 48 Stunden Neukölln suchte nach Antworten

„Für uns ist es wichtig, dass wir uns kritisch mit der Gentrifizierung Neuköllns auseinandersetzen. Gerade Künstler sind oft selbst davon betroffen“

THORSTEN SCHLENGER, FESTIVALCHEF

VON HANNAH KÖNIG

Auf dem Foto starrt eine Frau in die Kamera, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht ausdruckslos. Um ihren Hals hängt ein schwarzes Schild mit der Aufschrift: Abgemahnt wegen künstlerischer und grafischer Tätigkeit in der Wohnung. Die Frau auf dem Bild, das wie ein Verbrecherfoto anmutet, ist die Künstlerin Christina Paetsch, deren Haus luxussaniert werden sollte. Die Mieter sollten raus. Paetsch wehrte sich – juristisch, und mit den Mitteln der Kunst.

Die Fotografie ist Teil des Kunstfestivals 48 Stunden Neukölln. Zwei Tage lang verwandelte sich der Norden des Bezirks am Wochenende in eine Meile an Ausstellungen, Performance und Musik – 260 Veranstaltungen, verteilt über acht Kieze. Vom Tempelhofer Feld bis zum Maybachufer sah man an den Eingängen von Galerien, Läden und Cafés die kleine Fahne mit der Aufschrift: „Kunst ist hier“.

Nicht nur Bespaßung

Unter dem Thema „Courage“ sollten die Künstler kreativ auf brisante existenzielle Veränderungen im Bezirk reagieren. Doch es gab auch eine Fotoausstellung zum Thema Homosexualität im Fußball oder eine Installation zu den Gezipark-Protesten in der Türkei. Im Vordergrund stand jedoch immer: die Verantwortung der Kunst als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Man will mehr sein als „nur eine Bespaßungsaktion“, sagt Organisator Thorsten Schlenger. „Kunst muss die soziale Interaktion suchen und braucht immer eine Anbindung an die Realität, mit der sie konfrontiert ist.“

Die Idee für das jährliche Festival entstand 1999 als Reaktion auf einen Artikel im Spiegel. Dort war die Rede von sozialer Verwahrlosung und Kriminalität – Neukölln als der Slum Berlins. Das Kunstfestival sollte ein Impuls sein gegen das Negativimage des Bezirks.

Der „Slum“ ist längst hip geworden unter Kreativen, Touristen und Studenten – in einem Maße, findet Festivalleiter Schlenger, „dass es sich schon fast ins Negative gedreht hat“. Denn der Imagewandel hat in Neukölln auch den Gentrifizierungsprozess angestoßen: Die Party- und Kreativszene blüht, und auch die Mietpreise schießen in die Höhe.

„Für uns ist es deshalb sehr wichtig, dass wir uns kritisch mit der Gentrifizierung Neuköllns auseinandersetzen“, sagt Schlenger. Immer wieder würden Künstler mit dem Vorwurf konfrontiert, eine wesentliche Rolle im Verdrängungsprozess zu spielen. „Dabei sind gerade Künstler oft selbst davon betroffen.“

So erging es auch Christina Paetsch. Sie ist in Neukölln geboren und aufgewachsen. In ihrer 2-Zimmer-Wohnung in der Fuldastraße arbeitete sie bis 2011 als Künstlerin. Dann sollte die Wohnung saniert werden. Eine Abmahnung der Vermieter, die Paetsch zum Auszug bewegen sollte, kam vor Gericht nicht durch. Doch eine Mieterhöhung zwang die Künstlerin schließlich zum Auszug. Danach war für sie klar: „So kann es in unserer Stadt nicht weitergehen.“ Sie verarbeitete ihre Geschichte in ihren Fotografien.

Auch die Aktion „Mut zu Neukölln. Temporäre Bewohner_innen“, beschäftigte sich am Wochenende mit dem Thema Verdrängung – allerdings aus einer ganz anderen Perspektive. „Wir wollen mit unserem Projekt diejenigen in die stadtpolitische Debatte miteinbeziehen, um die es eigentlich geht: die Zugezogenen“, erklärt Nils Grube vom Verein Kritische Geographie Berlin. Mit Stift und Papier bewaffnet hatten die Aktivisten deshalb auf dem kleinen Platz vor dem Neuköllner Passage-Kino in der Karl-Marx-Straße Dutzende Besucher zu ihrer Herkunft befragt.

Auf einer großen Karte aus Pappe zeigten bunte Fäden, woher die Zugezogenen kommen. Die meisten Nadeln steckten in Europa, eine in Neuseeland, ein paar in den USA. Viele der Befragten gaben an, schon einmal angefeindet worden zu sein – als Touristen, Verdränger, Gentrifizierer. „Dabei wird oft vergessen, dass viele Zugezogenen selbst aus ihren Heimatstädten verdrängt wurden“, sagt Grube.

Für Künstlerin Hadmut Bittiger steht fest: Der Bezirk ist in den letzten Jahren immer lebendiger und bunter geworden – auch oder gerade durch seine Zugezogenen. In dem Kirchenraum der Herrnhuter Brüdergemeinde in Rixdorf hatte die Installationskünstlerin eine lange Reihe grauer Pflastersteine durch den Mittelgang der Kirche gelegt: grau und langweilig – so war Neukölln früher für Bittiger.

In ihren Steinweg hatte die Künstlerin deshalb viele kleine Lautsprecher eingebaut. Hinter jedem Lautsprecher verbarg sich ein Interview mit einem der vielen Laden-, Café- und Galeriebesitzer des Bezirks. Je mehr Interviews der Besucher aktivierte, desto bunter und lauter wurde das Stimmengewirr. Die Vielfalt der Menschen, Ideen und Geschichten – das ist es, was Neukölln heute ausmache, so Bittiger.

Ob das Kunstfestival diese Vielfalt auch in Zukunft feiern kann, ist ungewiss. Vom Bezirk kommt nur eine geringe Summe Fördermittel. „Wir sind das größte Kunstfestival Berlins, aber auch das ärmste“, sagt Schlenger. Und im nächsten Jahr sollen die Mittel noch gekürzt werden. „Das Konzept für 2015 steht. Ob es dann weitergeht, wissen wir nicht.“