Vor dem Rave

„Ich habe einfach Glück“ und „Lelle“: Alexa Hennig von Lange schreibt Kinder- und Jugendbücher, die irgendwo zwischen Soap und Familienwirklichkeit angesiedelt sind

Manche Bücher faszinieren, weil sie echt sind. Andere, weil sie unecht sind. Alexa Hennig von Langes Roman „Ich habe einfach Glück“ fasziniert, weil er sowohl echt als auch unecht ist.

Echt ist dieses Buch, das in diesem Jahr mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, weil es hautnah und in frechem Ton das zwiespältige Leben der Jugendlichen Lelle schildert: Die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Lelle wohnt mit ihrer Schwester Cotsch und ihren Eltern in einer Neubausiedlung. Die familiäre Idylle, die von den Eltern vor den Nachbarn aufrechterhalten wird, ist trügerisch. Der Vater hat sich bereits emotional von seiner Frau und seinen Kindern verabschiedet und putzt am liebsten im Keller Schuhe. Lelles Mutter kontrolliert jeden Schritt ihrer beiden Töchter, ohne dabei jedoch den Überblick zu behalten. Cotsch fühlt sich ungeliebt und stürzt sich in die Arme jedes bereitstehenden Mannes. Und Lelle selbst versucht krampfhaft die Familie zusammenzuhalten, indem sie ihre Mutter tröstet, ihren Vater aufheitert und nachts ihre Schwester sucht, wenn die wieder mal irgendwo abhängt.

Unecht ist dieses Buch, weil es Lelles Familienalltag in grelle Farben taucht und unnatürlich schnell ist. Lelles Welt wird nicht langsam entfaltet, sondern mit mehreren drastischen Bildern kurzerhand inszeniert. Innerhalb von drei Tagen läuft Lelles Mutter vor ein Motorrad, bricht sich Cotsch das Knie, erleidet Lelle einen Schwächeanfall wegen ihrer Essstörung und verlässt der Vater nach einem Familienstreit das Haus. Das Leben als Vorabendserie: Lelle stellt sich obendrein noch Vergewaltigungen und Messerstechereien vor und erinnert sich an den jämmerlichen Krebstod ihrer Nachbarin.

Den komplexen Alltag in die schnelle Folge außergewöhnlicher Ereignisse zu bringen, das ist die Art und Weise, wie Soaps Realität in Form gießen. Da sagt ein knalliges Bild mehr als tausend Worte und werden die Belanglosigkeiten des Alltags mit neurotischen Darstellern und plötzlich eintreffenen Schicksalsschlägen aufgepeppt. Faszinierend an Alexa Hennig von Langes Erzählweise ist nun, dass sie „soapige“ und realistische Elemente produktiv miteinander verbindet. Da wartet beispielsweise Lelles Mutter mit eingebildetem Herzinfarkt auf den Notarzt, während sich Lelles Vater seine Lieblingsbücher anschaut, oder zieht Cotsch in einer eindrucksvollen Kneipenszene einem x-beliebigen Typen die Hose runter, während Lelle sich ärgert, dass ihre Schwester ihr gerade die Tour mit ihrem Angebeteten vermasselt.

Was ist da Soap, was Realität? Und vor allem: Wie wird es morgen oder nächste Woche weitergehen? Es ist durchaus erfrischend, wie der Roman beim Lesen die Frage aufwirft, ob sich unsere seriengewöhnte Wahrnehmungsweise bereits so verändert hat, dass wir Wirklichkeit nur noch innerhalb bestimmter Schemata erkennen können.

Befragt man Alexa Hennig von Langes jüngstem Roman „Lelle“ mit derselben Hauptdarstellerin dazu, verstärkt sich dieser Eindruck. Lelle ist hier zwischen vier und sechs Jahre alt und ihre Welt noch einigermaßen in Ordnung. Auch wenn die Autorin in diesem Buch nicht mit soapmäßigen Katastrophen aufwartet, sondern in natürlicher Geschwindigkeit einen harmlosen Kinderalltag schildert, fällt auf, dass Realität nur noch rasterhaft wahrgenommen wird. Von der Barbiepuppe, der aus Langeweile der Kopf abgerissen wird, bis zu den Monstern unterm Bett lässt die Autorin kein Klischee aus. Anders als in „Ich habe einfach Glück“ unternahm es hier die Autorin allerdings nicht, Realität und Soap spannungsreich miteinander zu verbinden und so eine neue Wahrnehmungsweise zu evozieren – die Geschichte bleibt in der bloßen Wiedergabe bekannter Muster gefangen. Rasterhaftigkeit ist eben nicht gleich Rasterhaftigkeit. „Lelle“ hätte eine starke Prise sowohl der nuancierten Wirklichkeit als auch der soapigen Dramatik seines Vorgängerromans sicher gut getan.

ANNETTE KAUTT

Alexa Hennig von Lange: „Ich habe einfach Glück“. Rogner & Bernhard, Hamburg 2001, 260 Seiten, 12,75 €;dies.: „Lelle“. Rogner & Bernhard, Hamburg 2002, 85 Seiten, 15 €