: Störungen im Hormonsystem
Viele Zusätze in Kunststoffen stehen im Verdacht, den Hormonhaushalt durcheinander zu bringen. Tierversuche zeigen, dass schon geringste Konzentrationen der Substanzen gesundheitsschädliche Wirkungen haben. Die Chemieindustrie wiegelt ab
von HILTRUD BAUR
Das Zeug steckt überall. In Babysaugern, CD-Roms und Frischhaltefolien, in Teppichböden, Zahnfüllungen aus Kunststoff und im Wasser. Es macht Plastik weich, mindert die Entflammbarkeit von Vorhängen oder schützt vor Pilzbefall. Aber beim Fußball hört der Spaß auf. In die Schlagzeilen kamen hormonaktive Substanzen nur, als man den Vertreter Tributylzinn (TBT) in Trikots fand.
Bei hormonaktiven Substanzen, auch endokrine Disruptoren (ED) genannt, handelt es sich um ganz unterschiedliche Chemikalien. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das Hormonsystem stören können. TBT hemmt zum Beispiel ein Enzym, das bei der Entstehung von Östrogen mitwirkt. Folge ist ein Überschuss an männlichen Hormonen, so dass zum Beispiel Schnecken vermännlichen. Andere ED stimulieren oder blockieren Rezeptoren und verschieben so das Gleichgewicht der Hormone. Polychlorierte Biphenyle (PCB) wiederum greifen in den Haushalt der Schilddrüsenhormone ein.
Hunderte von Stoffen sind verdächtig, im Hormonsystem herumzupfuschen. Einige sind verboten, haben sich aber in der Umwelt angereichert. Experten erstellten im Auftrag der EU-Kommission eine Liste von 60 Substanzen, deren Untersuchung Vorrang haben sollte.
Knackpunkt in der Nachweiskette, was die Wirkung auf den Menschen angeht: Die meisten Wirkungen konnte man bisher nur im Reagenzglas oder im Tierexperiment zeigen. Und das Mantra der Zweifler lautet: „Die Ergebnisse lassen sich nicht auf den Menschen übertragen.“ Experimente am Menschen wird es aber aus ethischen Gründen nicht geben.
Wissenschaftler stützen sich auf Untersuchungen an großen Bevölkerungsgruppen. „Da beim Menschen viele Chemikalien zusammenwirken, können wir keinen zweifelsfreien Beweis für einen einzelnen Stoff bringen“, räumt der Biologe Andreas Gies ein. Er leitet die Abteilung für Stoffbewertung und Gentechnik beim Umweltbundesamt. Die Wissenschaftler finden aber Zusammenhänge, zum Beispiel zwischen PCB-Gehalt der Muttermilch und späterer Denkleistung der Kinder. Denn Schilddrüsenhormone beeinflussen die Entwicklung des Gehirns.
Man vermutet auch, dass ED im frühen Lebensalter die Spermien produzierenden Hodenzellen verändern könnten. Heute ist in Westeuropa die Spermaqualität bei über 40-jährigen Männern häufig besser ist als bei jüngeren. Kontakt mit ED im Mutterleib könnte auch das Risiko erhöhen, später im Leben an Hodenkrebs zu erkranken. Möglicherweise tragen die Chemikalien dazu bei, dass die Pubertät immer früher beginnt. Ansteigende Raten von Prostata- und Brustkrebs werden ebenfalls mit ED in Zusammenhang gebracht. Denn Hormone können das Wachstum dieser Krebszellen stimulieren. Belege für diese Vermutung fehlen allerdings bisher.
Umwelttoxikologen des Berliner Universitätsklinikums Benjamin Franklin fütterten trächtige Ratten mit geringen Mengen von Bisphenol A (BPA), einem Baustein von Kunststoff. Die Vagina der weiblichen Nachkommen war später verändert. In Blut- und Gewebeproben von Menschen fanden die Forscher Konzentrationen von BPA, die mit denen von Tierstudien vergleichbar sind. „Wir wollen mit unseren Versuchen feststellen, ob BPA auch unterhalb einer angeblich unschädlichen Konzentration wirken kann“, erklärt Gilbert Schönfelder, ein Mitglied der Berliner Arbeitsgruppe.
Denn ED funktionieren nicht wie Gifte, die erst ab einer bestimmten Dosis schaden. „In der Pharmakologie gibt es viele Beispiele für Stoffe, bei denen unterhalb eines Bereichs ohne Wirkung wieder stärkere Effekte auftreten“, erklärt Andreas Gies. Rezeptoren können zum Beispiel ihre Empfänglichkeit für eine Substanz mit der Konzentration verändern. „Für Bisphenol A gibt es ein halbes Dutzend Studien, die eine Wirkung auch bei sehr geringen Mengen belegen“, bestätigt Andreas Gies.
Noch kaum untersucht ist, ob der Körper vor und unmittelbar nach der Geburt oder auch während der Pubertät auf ED reagiert. In diesen Lebensphasen sind viele Zellen besonders empfänglich für hormonelle Wirkungen. Außerdem ist unklar, ob und wie die verschiedenen Substanzen zusammenwirken.
Trotz aller Unklarheiten – der Verband der Chemischen Industrie (VCI) behält den Überblick. Forschungsarbeiten in seinem Auftrag fanden für BPA und einige andere Stoffe hormonelle Wirkungen nur bei verhältnismäßig hoher Dosierung; „… für endokrin vermittelte Effekte können Schwellenwerte ermittelt werden … das heißt, Dosen ohne Effekt“, steht im VCI-Positionspapier vom April 2001. Nur für das verbotene DDT findet die Auftragsforschung schädliche Wirkungen auch bei geringer Dosierung. Der VCI sieht keinen wissenschaftlichen Beleg eines Zusammenhangs zwischen ED und gesundheitlichen Störungen.
„Als Wissenschaftler fehlt mir auch der letzte zweifelsfreie Beweis für den einzelnen Stoff. Aber Wissenschaft und Politik haben verschiedene Aufgaben“, meint Andreas Gies. Von der Politik erwartet er Vorsorge. Denn Hinweise auf die Schädlichkeit von ED gibt es viele.
In den Amtsstuben ticken die Uhren aber noch langsamer als im Labor. In den nächsten Jahren will die EU eine Liste von gefährlichen Altstoffen erstellen. Die meisten ED gelten als Altstoffe, weil sie schon vor 1982 auf dem Markt waren. Erst seit 1982 muss die Industrie bei neuen Substanzen die Gefahren für Umwelt und Gesundheit untersuchen. Die hormonelle Wirkung wird dabei aber nicht überprüft. Wer ab 2012 einen besonders gefährlichen Altstoff verwenden will, muss eine Genehmigung einholen. Dann könnte die Chemikalie X beispielsweise für Babyschnuller und Frischhaltefolien verboten, für medizinische Geräte dagegen erlaubt werden.
Welche Stoffe als zulassungspflichtig gelten und für welche Zwecke diese wiederum genehmigt werden, soll die Gemeinschaft festlegen. Über ihre Position schrieb die Bundesregierung im März 2002 in einem gemeinsamen Papier mit dem VCI und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie: „… den Schutz der menschlichen Gesundheit und Umwelt … so zu gewährleisten, dass gleichzeitig günstige Rahmenbedingungen für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie sichergestellt sind“.