: Die Touristen wollen nur noch weg
FOLGEN Die Behörden versuchen, Normalität zu suggerieren, die Ober warten in Restaurants auf Gäste – doch die reisen ab oder stornieren ihre Reisen nach Tunesien. Dem Land droht eine existenzielle Krise
SOUSSE taz | Vor dem „Imperial Marhaba Hotel“ im Badeort Sousse versuchen die Angestellten, mit Wasserschläuchen die Blutlachen von der Straße und dem Poolbereich zu entfernen. Im Restaurant warten die Ober bereits wieder auf Kunden. „In Paris gab es doch auch einen Anschlag“, sagt ein Ladenbesitzer.
Nach dem Attentat am Freitag und dem Tod von 38 Touristen gibt sich Tunesien bewusst gelassen. Da die staatlichen Antiterrormaßnahmen den blutigsten Anschlag in der Geschichte des Landes nicht verhindern konnten, greifen die Behörden auf eine andere altbewährte Methode zurück: Man beseitigt schnell die Spuren und versucht, wieder zum Alltag überzugehen.
Doch nach dem blutigen Attentat wollen die meisten Gäste nur noch eins: weg. Deutsche und britische Reiseveranstalter hatten bereits am Freitagabend die ersten Touristen zurück nach Europa geflogen. Chartermaschinen, die bereits auf dem Weg zu tunesischen Flughäfen waren, kehrten nach den ersten Berichten noch in der Luft um. Und alle großen Reiseveranstalter bieten Stornierungen und Umbuchungen für Tunesienreisen an.
Das Land steht nach der Tat des 23-jährigen Technikstudenten aus Siliana vor einer existenziellen Krise: Zwar erwirtschaftet Tunesien mit seinen rund 11 Millionen Einwohnern offiziell nur 7 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes mit Tourismus. Doch viele Experten warnen, dass ein Ausbleiben der Europäer einen dramatischen Rückgang der Deviseneinnahmen und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf bis zu 30 Prozent zur Folge haben könnte. Schon jetzt gilt die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit als Hauptgrund dafür, dass sich mehr als 4.000 junge Tunesier Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat oder Ansar Scharia angeschlossen haben.
Die Verkäufer in der Altstadt von Sousse sind am Samstag zu geschockt, um die wenigen verbliebenen Ausländer zu bedienen. Vor einem Laden schauen sich einige Männer kopfschüttelnd das Handyvideo eines Augenzeugen des Angriffs an. Das Schreien der fliehenden Touristen treibt dem 56-jährigen Mohamed Said die Tränen ins Gesicht. „Das ist nicht das, wofür Tunesien und der Islam stehen.“
Neben der brutalen Ausführung war wohl auch der Zeitpunkt der Tat kühl berechnet. Gerade hatten sich zahlreiche Reiseveranstalter entschlossen, Tunesien noch eine Chance zu geben, sagt Taufik Gaied, Leiter des Tourismuszentrale auf Djerba. Dort hat der TUI-Konzern gerade einen Robinson-Club eröffnet. Die vielen Stammgäste und die Tourismusbranche nahmen sehr wohl wahr, dass sich die Tunesier nach der Jasminrevolution immer wieder gegen den Terror aufgelehnt hatten.
Nach dem Anschlag auf das Nationalmuseum Bardo in der Hauptstadt Tunis im März bekundeten Menschen aus aller Welt mit „I will come to Tunisia“ ihre Solidarität – und den Willen, weiter in Tunesien Urlaub zu machen. Nun sieht ein Hotelbesitzer in Sousse für die kommenden Jahre schwarz: „Die Reiseveranstalter hatten die Preise bereits so weit gesenkt, dass wir viele Angestellte nur wenige Monate im Jahr anstellen können. Nun droht ihren Familien Verarmung durch Arbeitslosigkeit.“
Die Eskalation der angespannten Wirtschaftslage bis hin zu sozialen Unruhen ist das offen erklärte Ziel der Islamisten, die von den Wählern im Frühjahr abgestraft worden waren. Im Oktober 2014 hatte die säkulare Nidaa Tounes die meisten Stimmen erhalten. Seitdem haben sich geschätzt mehr als 4.000 junge Tunesier aus dem veramten Südwesten Milizen in Libyen und Syrien angeschlossen, die nun verstärkt in Tunesien aktiv sind.
Viele treibt die pure Verzweiflung in die Arme der Extremisten oder auf die Straße. Proteste gegen den Energiekonzern Total in der Sahara-Oase Douz forderten Anfang Juni Dutzende Verletzte. Wie viele junge Männer sich wie Sheffedine Rezgui, Attentäter von Sousse, militanten Gruppen angeschlossen haben, ist unklar. Nach Angaben des Innenministeriums wurden in den letzten drei Jahren 7.000 an der Ausreise nach Libyen und Syrien gehindert.
Die Regierung würde die Öl- und Phosphatvorkommen unter Marktpreis ausländischen Konzernen zukommen lassen, so der Vorwurf im Südwesten, wo die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen wohl über 40 Prozent liegt. Gewerkschaften beklagen zudem die zunehmende Umweltverschmutzung durch die Phosphatminen bei Gafsa.
In der Innenstadt von Sousse demonstrierten am Freitagabend Tausende Bürger spontan gegen den Terror. Doch die Stimmung bleibt gedämpft. Die 45-jährige Tourismuskauffrau Hiba Said steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben: „Wir müssen uns nun endlich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Tausende junger Tunesier zu Extremisten geworden sind und nicht mehr nur in Syrien und Libyen, sondern auch in Tunesien kämpfen. Sie sind unsichtbare Gegner.“ MIRCO KEILBERTH