piwik no script img

Archiv-Artikel

Am kürzeren Ende der Friedrichstraße

KINO In dem Spielfilm „Victoria“ trifft eine Exilspanierin auf vier Berliner Jungs. Der ohne Schnitte gedrehte mehr als zweistündige Berlin-Film spielt in der südlichen Friedrichstraße – jenseits aller Hauptstadt-Hipness. Genau da, wo die taz bald ihr neues Haus baut

Der Film und die taz

■ „ ‚Victoria‘ entdeckt seine unverbrauchten Mittel um vieles ruhiger, konziser und atmosphärischer, als es die wackligen Bilder der Dogma-Filme forderten“, schreibt Claudia Lenssen in der taz in ihrer Besprechung des Films. Ab heute in neun Kinos.

■ Die taz zieht um und verlässt ihr Domizil in der Rudi-Dutschke-Straße, um rund 500 Meter weiter in die südliche Friedrichstraße zu ziehen. Im Spätherbst beginnen die Bauarbeiten, der Umzug soll Ende 2017 über die Bühne gehen.

■ Für das Investitionsvorhaben bekommt die taz 3.779.970 Euro Fördergelder aus dem Fonds „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, wie aus einer Antwort vom Mittwoch auf eine Anfrage unseres Lieblings-CDU-Parlamentariers Kurt Wansner hervorgeht. Wansner wird in der Antwort beruhigt: Bisher seien Fördermittel nicht ausbezahlt worden; es fließt auch erst, wenn Investitionen erfolgten. Und: „Wird der Neubau nicht realisiert, werden auch keine Fördermittel ausbezahlt.“ (taz)

VON BERT SCHULZ

Starbucks Currency-Exchange Euro-Shop Casino Belle-Arti („Die Kunst schönen Wohnens“) Arbeitsagentur Polizeiabschnitt 53. Ununterbrochen reiht sich ein überflüssiges Angebot an das nächste die Friedrichstraße hinunter. Dies hier ist die öde, die Kreuzberger Seite der Edelmeile, vom Checkpoint Charlie Richtung Süden, Richtung Mehringplatz. Sie ist die Kulisse für „Victoria“ von Regisseur Sebastian Schipper, der am heutigen Donnerstag in den Kinos anläuft. Unterbrochen von Schnitten erzählt der Film die Geschichte der gleichnamigen Titelheldin aus Spanien, die in einem Club vier Berliner Jungs trifft und schließlich mit ihnen eine Bank überfällt. Nach mehr als zwei Stunden ist alles wieder vorbei. Es ist ein Berlinfilm der besonderen Art.

Nicht nur, weil er nicht Cool Berlin zeigt mit seinen Neuköllner Hipstern aus aller Welt, sondern „real Berliners“, wie sich die vier Jungs – mit Spitznamen Sonne, Boxer, Blinker und Fuß – Victoria vorstellen. Und weil der Film keine Schnitte enthält, da er unablässig, meist schnell, selten auch etwas langsamer voranschreitet (und in dieser Dynamik oft an „Lola rennt“ erinnert), sind die Kulissen realer als sonst. Wo man sonst als Zuschauer im „Tatort“ oder auch bei „Oh Boy“, dem Berlin-Film der letzten Dekade, sich über die oft wilde Aneinanderreihung eindrucksvoller Drehorte wundert, stimmt bei „Victoria“ in dieser Hinsicht alles.

Natürlich auch ein Späti

Von einem „Club“ – der freilich nicht existiert, siehe Grafik – ziehen die fünf zum Späti in der Friedrichstraße, hängen auf einem Hausdach um die Ecke ab, flirten im Café gegenüber, überfallen schließlich eine Bank im angrenzenden Mitte. Der Rest wird nicht verraten. Aber alles spielt sich in Echtzeit ab, die Wege mussten beim Dreh so kurz sein, dass es den Zuschauern nicht langweilig wird, weil es zu langwierig wird.

Dreimal filmte Regisseur Schipper die ganze Story, immer zwischen 4.30 und 7 Uhr morgens. Die letzte Fassung schaffte es in den Wettbewerb der diesjährigen Berlinale. Dort hatte „Victoria“ Premiere; er bekam schließlich einen Silbernen Bären für eine „herausragende künstlerische Leistung“.

Der Späti, in dem die vier Jungs sich ein paar Bier klauen, weil der Besitzer pennt, liegt gegenüber des Polizeireviers und gehört in Wirklichkeit Kamer Senel und seinem Bruder Onur. Sie verkaufen zig Sorten Bier – das 0,5-er Schultheiß etwa für 1,50 Euro –, Nippes für Touristen, Zeitungen, Süßes. Ein bisschen enttäuscht ist Kamer Senel, als er hört, dass der Film nun anläuft: „Der Regisseur wollte mir eigentlich Karten vorbeibringen. Hat sich aber nicht mehr gemeldet“, sagt er. Bisher habe er nur den Trailer gesehen.

Trotzdem erinnert er sich an die Drehs mit einem Strahlen im breiten Gesicht. Kein Wunder, er bekam sogar eine Rolle – nicht als müder Bierverkäufer, sondern als zupackender Türsteher im Club. Ein Job, den man dem breit gebauten 35-Jährigen problemlos zutraut. Er arbeite nebenbei auch als Sicherheitsmann, berichtet Senel; der Kiosk bringe nicht genug ein.

Zwar wären unter den Kunden neben Touristen auch viele Nachbarn, aber die Miete habe sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt. „Das musst du mit so was erst mal reinholen“, sagt er und räumt ein paar Bier in die Kühlschränke. Immerhin hat er durch den Film keinen Verlust gemacht: Das von der Fünfergang geklaute Bier hatte das Team selbst mitgebracht. Allerdings, berichtete Regisseur Schipper nach einer Berlinale-Vorstellung, hätten sich die Schauspieler zu seinem Erschrecken statt dem extra bereitgestellten Alkohlfreien zielstrebig die Flaschen mit richtigen Bier gegriffen. Dem Dreh hat es nicht geschadet.

Der Späti-Besitzer spielt den Club-Türsteher. Die Rolle nimmt man ihm sofort ab

Die Straße runter kommt noch ein Kik-Billigklamottenladen, die Resterampe von Motz e. V. und 1970er-Jahre-Sozialbauten, deren Balkone oft nur als Halterung für Satellitenschüssen dienen. Dann, wie eine komplett fehlplatzierte Kulisse an der Ecke zur Hedemannstraße, lädt das Bio-Bistro Wilhlem & Medné zum Mittagstisch. Hier gibt es Ofengemüse der Provence mit Röstkartoffeln für 6,80 Euro und Demeteräpfel an der Theke für einen Euro. Daneben liegen Flyer für „Victoria“ aus. Im Film kommen sich in dem Eckladen Victoria und Sonne – gespielt von Laia Costa und Frederick Lau – näher. Victoria, die dort als Bedienung arbeitet, soll das Café aufmachen und zeigt Sonne, was sie mal auf dem Klavier gelernt hat.

Das Instrument fehlt nun, überhaupt wirkt das Bio-Bistro heller als im Film. „Wir haben damals gerade renoviert“, erinnert sich Inhaberin Ingeborg Wilhelm-Medné. Seit 2000 halten sie hier durch, berichtet sie. Damals sei die Gegend noch öder gewesen. Inzwischen gebe es immerhin einige Hotels – auch durchaus teurere – und sogar Galerien.

Bei den Dreharbeiten waren sie und ihr Mann nicht dabei. „Wir haben der Crew den Schlüssel gegeben. Am Ende stand wieder alles auf seinem alten Platz.“ Auch Ingeborg Wilhelm-Mednés Augen glänzen, wenn sie sich an die Zeit erinnert. Denn sie hat auch schon das Ergebnis gesehen: „Super gut“ habe ihr der Film gefallen. Sogar zu After-Film-Party auf der Berlinale seien sie eingeladen gewesen. Doch die habe erst um halb zwei nachts angefangen – zu spät für eine, die stets um 6 Uhr morgens in der Küche anfange.

In den kommenden Jahren wird sich die Ecke hier auf halber Strecke zwischen Checkpoint und Mehringplatz noch mal deutlich ändern. Rund um die einstige Blumengroßmarkthalle entsteht ein Kunst- und Kreativquartier. Direkt gegenüber von Wilhelm-Mednés Bistro baut die taz ihr neues Haus, inklusive dem bekannt gutem taz-café. Einzug soll im Herbst 2017 sein. „Das ist schon okay“, gibt sich Ingeborg Wilhelm-Mednés ganz entspannt angesichts der künftigen Konkurrenz. Für ihr Geschäft wäre das sogar gut, und für diese Ecke der Stadt auch.