Wir können auch woanders

AUFSTAND Eine reiche Erbin macht seit Jahren da Urlaub, wo sich jetzt Barack Obama und Angela Merkel treffen. Sie will gegen den G-7-Gipfel protestieren. Erfahrene Aktivisten zögern. Sie kämpfen lieber in Meuchefitz

■ Das Camp: Die Gipfelgegner dürfen auf einer Wiese am Fluss Loisach in Garmisch-Partenkirchen zelten. Das Verwaltungsgericht München hob am Dienstag das Verbot eines Protestcamps auf einer Wiese auf. Die Gemeinde Garmisch-Partenkirchen wurde verpflichtet, ein Camp mit bis zu etwa 1.000 Teilnehmern weitgehend zu dulden. Gemeinde und Organisatoren unterschrieben einen Vertrag, der unter anderem vorsieht, dass es keinen Zaun um das Lager gibt.

■ Die Demonstrationen: Ab 12 Uhr wird es am Sonnabend eine Demonstration auf dem Bahnhofsplatz in Garmisch-Partenkirchen geben. Welche der geplanten Routen für den Sternmarsch zugelassen sind, entnehmen Sie bitte taz.de. Fünf KorrespondentInnen liefern am Sonnabend aktuelle Berichte von Gipfel und Protest und bestücken ab Sonntag 7.30 Uhr den Liveticker zu den Ereignissen. Anfahrtsrouten und Demowege finden Sie auch auf: www.stop-g7-elmau.info.

AUS ELMAU, BERLIN, FRANKFURT UND MEUCHEFITZ MARTIN KAUL
UND CHRISTIAN JAKOB

An einem sonnigen Morgen im März fährt Eva Stilz mit ihrem Kleinwagen zur Kreissparkasse Garmisch-Partenkirchen, um einen Goldbarren gegen Bargeld einzutauschen. Von den 17.000 Euro will sie ihre Hotelrechnung begleichen, in den kommenden Tagen ein fünftes Auto kaufen und einem Politaktivisten die Krankenkasse und etwas Unterhalt zahlen, damit er sich ganz auf die Proteste gegen den G-7-Gipfel konzentrieren kann.

Ein paar Stunden später sitzt Stilz, 54, auf einem großen Ledersofa im Teesaal des Hotels Schloss Elmau, fünf Sterne Superior. Die meisten Polstersessel sind leer, es läuft leise Jazzmusik. Durch die großen Fenster in ihrem Rücken ist ein Bergmassiv zu sehen, der Wettersteinkamm. Auf den Gipfeln liegt Schnee. Das Holz im Kamin verbrennt mit feinem nussigem Duft, kein Vergleich zum beißenden Qualm der Feuertonnen, um die sich Stilz mit anderen Atomkraftgegnern einst bei den Castorprotesten im Wendland drängte.

Ihre Füße sind nackt, die Fußnägel bunt, der Lack blättert ein wenig ab. Sie ist die Einzige, die hier im Hotel barfuß läuft. Im Schneidersitz spricht sie von Tausenden Menschen, die Anfang Juni die Wege zu diesem Schloss blockieren sollen, in dem sie seit 30 Jahren zu Gast ist.

Stilz hat hier morgens gesungen, wenn hinter den Bergen die Sonne aufging, und abends getanzt. „Elmau“, sagt sie, „war für mich ein Ort des Rückzugs, wo ich wichtige Lebensentscheidungen noch einmal durchdacht habe.“ Sie machte schon als junge Frau mit ihrer Mutter hier Urlaub, als das Schloss noch vor allem Esoteriker und Naturfreunde anzog.

Oben am Hang haben sie frisch asphaltiert, da wird Barack Obama aus einem Militärhubschrauber steigen, um sich dann mit Angela Merkel zu treffen, mit David Cameron und den anderen Staats- und Regierungschefs. Demonstranten wollen die Zufahrten rund um das Schloss blockieren, Eva Stilz möchte dabei sein. „Blockade ist ein Bürgerrecht“, sagt sie, „und für mich ist es auch Bürgerinnenpflicht.“ Sie hat einen Traum, sie arbeitet dafür, seit Monaten: Es sollen große Proteste werden, Proteste, von denen die Welt reden wird, so wie 2007, so wie in Heiligendamm.

Heiligendamm, das älteste Seebad des Kontinents. Fürsten machten hier Urlaub, auch hier steht ein Hotel, das an ein Schloss erinnert. An einem Mittwoch im Juni 2007 treffen sich Angela Merkel und George Bush, Tony Blair und Wladimir Putin mit anderen Regierungschefs zum G-8-Gipfel. Um Mitternacht erst haben sich Gipfelgegner bei einem streng geheimen Treffen in einer dunklen Jurte geeinigt, wo sie langlaufen wollen, um Heiligendamm zu blockieren. Im Licht von Taschenlampen markieren sie auf einer Landkarte ihre Ziele. Am frühen Morgen brechen Tausende Demonstranten aus Zeltlagern auf. Sie ziehen durch Industriegebiete, entlang schmaler Waldwege, über Felder, Wiesen, grüne Hügel. Wenige Stunden später kommt kein Auto mehr nach Heiligendamm durch. Auf den Straßen sitzen überall Menschen. Die Delegationen müssen eingeflogen werden. Aus einem Polizeihubschrauber funkt der Pilot an seinen Einsatzleiter: „Chef, es sind zu viele.“

Seit Monaten hatten linke Gruppen die Gipfelproteste vorbereitet, für viele Aktivistinnen ein Vollzeitjob. Am Ende reisten damals Flüchtlinge, Gentech-Gegner, Autonome, die „Clowns-Armee“ und der „Superheldenblock“ an, aus Athen kamen die Anarchos und aus Paris die Vordenker von Attac. Bands wie „Wir sind Helden“ gaben bei der zentralen Kundgebung in Rostock ein Konzert.

Die Blockaden fühlten sich wie ein Sieg über die mächtigsten Politiker der Welt an, die sich hinter zwölf Kilometer Sicherheitszaun verschanzt hatten. Acht Jahre ist das her.

Hier die bunte Menge der vielen, die für eine demokratisierte Welt kämpft, dort ein paar wenige Staatschefs, die eine ungebändigte Ökonomisierung des Lebens verfochten. Der italienische Politologe Antonio Negri und der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt haben dieser Macht der vielen einen Namen gegeben: „Multitude“. Der Begriff war zugleich ein Versprechen: Niemand muss sich einer linken Kampfgruppe verschreiben oder Marx studieren, um das Böse zu bezwingen. Hauptsache zusammen kämpfen. Der Gegner heißt bei Negri und Hardt „Empire“. Das klingt nach „Star Wars“, da wird das finstere Imperium von einem zusammengewürfelten Haufen fröhlicher Rebellen besiegt.

Was ist von diesem Gefühl geblieben?

Elmau im Juni 2015. Eva Stilz ist in einem ihrer Autos unterwegs, wieder in dem silberfarbenen Kleinwagen mit Hybridmotor. Fünf Fahrzeuge sind auf ihren Namen angemeldet, sie stellt sie sonst Sozialinitiativen oder einem gehbehinderten Bekannten zur Verfügung, an diesem Wochenende sind sie für die G-7-Proteste im Einsatz. Eva Stilz fährt von Elmau in die nahen Dörfern Klais und Krün, zurück zu ihr nach Hause, ins oberbayrische Rosenheim, und wieder Richtung Elmau. Gerade kann sie nicht telefonieren, kaum Empfang. Gleich vielleicht, dann ist sie bei einer Genossin. Oder doch jetzt? Worum geht es denn?

Vier Ferienwohnungen habe sie angemietet, erzählt Stilz, unten in Mittenwald, nur ein paar Kilometer von Elmau entfernt. In einer Wohnung lässt sie Motorradfahrer vom linken Motorradclub „Kuhle Wampe“ übernachten, sie sollen die Proteste unterstützen, Flyer transportieren zum Beispiel. In eine andere Wohnung hat Stilz Rechtsanwälte eingeladen, die helfen sollen, falls Protestierende Ärger mit der Polizei bekommen. Eine Wohnung bezieht sie.

Eva Stilz ist Erbin. Ihr Großvater war ein bedeutender Verleger. Mit dem Geld, das sie jährlich bekommt, kann sie komfortabel leben. Mehrere Tausend Euro, eine niedrige fünfstellige Summe, stehen ihr monatlich zur Verfügung. Eine genaue Zahl möchte sie nicht nennen, die Familie will das nicht. Die Besuche im Schlosshotel Elmau sind der Luxus, den sie sich leistet, den größten Teil ihres Geldes gibt sie ab. An Aktivisten, mit denen sie gegen die Hartz-IV-Gesetze oder den G-7-Gipfel in Elmau demonstriert. Sie kämpft mit anderen Wohlhabenden dafür, dass Reiche mehr Steuern zahlen. In Rosenheim besitzt sie ein paar Wohnungen, die sie günstig an alleinerziehende Mütter mit Kindern vermietet.

Seit einigen Wochen ist sie unterwegs, damit an diesem Wochenende etwas passiert: Sie will verhindern, dass sich die Regierungschefs der selbst ernannten sieben wichtigsten Industrienationen ungestört in den hintersten Winkel Deutschlands verziehen können. Sie hält dieses Verhalten für undemokratisch, und den Gipfel selbst für eine Verschwendung von Steuergeldern.

Gerade erst ging wieder ein Gerücht durch die Dörfer Klais und Krün, durch Mittenwald und Garmisch-Partenkirchen: Die Bundeswehr habe Dutzende Särge anliefern lassen, für den Katastrophenfall. Das ist Gerede, die Angst vor Gewalt ist aber real. Die Bundesregierung, die bayerische Landesregierung, die Polizei – sie alle warnen vor drohenden Ausschreitungen und verweisen auf die Blockupy-Proteste Mitte März in Frankfurt, angezündete Polizeiautos, verwüstete Straßen. Sie sagen auch, es könne wieder so werden wie in Rostock im Jahr 2007.

Rostock-Evershagen, Juni 2007, ein Tag nach der Auftaktdemonstration zum G-8-Gipfel in Heiligendamm, fast 1.000 Verletzte, ausgebrannte Autos, 165 festgenommene Verdächtige, zehn Haftbefehle – die schwersten Krawalle des Gipfels. „Ja, das hat ganz schön gerumst“, sagt Johnny Dobra am Tag danach, leckt über den Klebestreifen eines Blättchens und dreht eine Zigarette. In weniger als 24 Stunden soll der Gipfel beginnen. Dobra, schwarzgefärbte Haare, abgewetztes Basecap, steht vor der ehemaligen Ehm-Welk-Schule. Das Gebäude ist Anlaufpunkt, Lager für Transparentstoff, Farbe und Werkzeuge, Rückzugsraum. Junge Menschen laufen über den Schulhof, wollen ihre Handys aufladen, erkundigen sich nach Landkarten und Zugverbindungen. An einem halben Dutzend Orten sind am nächsten Tag Aktionen geplant. Die G-8-Gegner wollen ihre Blockaden tagelang halten. Dobra gehört zu denen, die für sie kochen, veganer Eintopf, gerade ist Pause.

Johnny Dobra zog wegen der Proteste nach Rostock. Er und seine Freunde bauten die Gruppe auf, die sich um Festgenommene kümmern sollte, er richtete mit anderen eine Küche und ein Internetcafé im Schulgebäude ein. Nachts schoben sie Wache, falls Neonazis angreifen würden.

Dobra versteht sich als Kommunist, kommt aber aus der Autonomenszene. Anders als viele dort glaubt er nicht an die selbstgefällige, radikale Nische, sondern an den Schulterschluss mit anderen, seine Wohngemeinschaft in Rostock war ein Anlaufpunkt für Radikale und weniger Radikale, je näher der Gipfel rückte, desto mehr Gäste kamen. Ihn trieb die Hoffnung, die verschiedenen, teilweise zerstrittenen linken Gruppen könnten sich in Gegnerschaft zum Treffen der Führer der kapitalistischen Welt vereinen. „Gemeinsamer Organisierungsprozess“, sagt Johnny Dobra dazu.

„Organisierungsprozess“, das ist eine Vokabel seiner Aktivistensozialisation. Dobra hat sich diese Begriffe in jahrelangen Debatten angeeignet, in basisdemokratischen Plena, in Protestcamps und Volksküchen. Er redet wie einer, der in jedem Moment eine Ansprache halten könnte, sehr schnell und doch jedes Wort betont. In Rostock sollte alles bereit sein für das gemeinsame, große „Nein zum Kapitalismus“, sagt er. „Es herrschte ziemliche Aufbruchstimmung.“

Wie mächtig Protest sein kann, hatte die westliche Welt 1999 erlebt. Während eines Treffens der Welthandelsorganisation in seiner Stadt hatte der Bürgermeister von Seattle den Ausnahmezustand verhängt. TV-Stationen sendeten Bilder von schwarz Vermummten, die Konzernzentralen in einer US-amerikanischen Großstadt mit Farbe besprühten, von eingeworfenen Fensterscheiben. Die Nationalgarde rückte an. Das Treffen konnte nicht wie geplant stattfinden, Nachrichtenmagazine nahmen „The Battle of Seattle“ auf den Titel. Mit dem G-8-Gipfel 2001 in Genua erreichten die Großproteste die europäischen Metropolen. Die globalisierungskritische Bewegung war wieder neu geboren, manche nannten sie die „Bewegung der Bewegungen“. In Brasiliens Hafenstadt Porto Alegre kamen jährlich Aktivistinnen und Aktivisten von allen Kontinenten zu Weltsozialforen zusammen. Es war der Traum einer Selbstermächtigung. Die globalisierungskritischen Bewegungen einte eine Vision: Ihre Allianz der vielen könne die Macht der wenigen herausfordern, die sich einbildeten, sie regierten die Welt.

Nach Heiligendamm fuhren drei volle Sonderzüge aus ganz Deutschland. Richtung Elmau fährt eine Regionalbahn aus München.

Polizisten mit grünen Baretten stehen auf einer menschenleeren Wiese, im Hintergrund das Schlosshotel. Polizisten reiten durch Berge. Ein Clip, am Mittwoch bei der Videoplattform YouTube hochgeladen, zeigt, wie Uniformierte im Wald mit ernsten Gesichtern an einem Zaun rütteln. Einer lacht, ein Polizeihauptmeister mit randloser Brille und Schnauzbart. Er sagt, wenn jemand über den Zaun wolle, komme er auch drüber.

Vor dem Gipfel in Elmau stritt sich das Protestlager schon, ehe überhaupt von Zusammenarbeit die Rede war. Teile von Attac und die Kampagnenorganisation Campact hielten es für ausgeschlossen, Zehntausende Menschen zu einer Demonstration in die Abgeschiedenheit von Elmau zu kriegen. Sie wollten nur bis München reisen. Die bayerischen Aktivistinnen rund um die dortige Linkspartei verstehen nicht, wieso sie weit weg vom Gipfel demonstrieren sollen. Statt gemeinsame Sache zu machen, macht heute jeder seins. Die einen in München, die anderen rund um Elmau.

Hinter der Uneinigkeit steckt mehr als das notorische Klein-Klein linker Gruppen: Ihnen fehlt das Gemeinschaftsprojekt. Auch weil der politische Gegner sie mit ihren eigenen Waffen schlägt. Plötzlich war es die Bertelsmann-Stiftung, die in Castrop-Rauxel, Emsdetten und Monheim den in Porto Alegre entwickelten kommunalen Bürgerhaushalt erprobte. Die, die mehr Mitbestimmung gewollt hatten, sahen, wie ihre Idee einer Bürgerbeteiligung benutzt wurde, um die Verantwortung für Sparmaßnahmen klammer Kommunen von den Politikern auf die Bürger zu übertragen.

Heute gibt es zahllose Initiativen und Organisationen mit allerlei Projekten, aus dem großen, gemeinsamen Kampf wurden wieder die vielen kleinen. Der Glaube, der bunte gemeinsame Aufstand der vielen, sei das geeignete Mittel, etwas gegen die Mächtigen auszurichten, scheint verloren. Das war allerdings schon vor Heiligendamm so.

Heute lässt sich nachlesen, was Globalisierungsgegner schon 2006 über medienwirksame Großproteste dachten. Auf dem Kongress der Bundeskoordination Internationalismus in Berlin bilanzierten sie eine „Schwächung lokaler Kämpfe“, die Vorbereitung binde langfristig Kräfte, die anderswo fehlten, beim Plakatekleben gegen Neonazis, beim Widerstand gegen Übungsplätze der Bundeswehr. Und wenn die „GipfelhopperInnen“ abgereist seien, „werden die lokalen Proteststrukturen mit einem Scherbenhaufen alleingelassen“, mit Schulden und juristischen Problemen.

In Berlin ging es damals um die Frage, was in Heiligendamm passieren sollte. Warum passierte ein Jahr nach dieser Kritik in Heiligendamm überhaupt etwas?

In Genua, Göteborg, Brüssel und Prag hatten es Demonstranten immer näher an die Tagungsorte heran geschafft, starke Bilder, die Eindruck machten. Protest war Pop, oder wie es die Aktivisten in ihrem Papier schrieben, der Widerstand gegen Angela Merkel und ihre Kollegen habe ein „enormes Potenzial zur Politisierung und Mobilisierung“. Also sollte Heiligendamm groß werden.

In einer Broschüre der linksradikalen Gruppe Avanti kommt diese Ambivalenz im linken Lager besonders schön zum Ausdruck. Die Kritik am Gipfel verwechsele die Verhältnisse mit dem regierenden Personal, „der globale Kapitalismus besitzt kein lokalisierbares und personifizierbares Zentrum“. Und dann: „Dennoch eignen sich die G-8-Treffen als Objekt einer radikalen Kritik.“

Henning Obens hat diese Sätze damals geschrieben.

Frankfurt am Main, am 18. März 2015. Es ist Abend. Obens sitzt in einer Dönerbude in der Kaiserstraße, unweit des Hauptbahnhofs. Er wertet den Tag aus. Im Fernsehen laufen die Nachrichtenbilder von der Blockupy-Demonstration in der Stadt. Die ARD bringt einen Brennpunkt: Krawalle am Morgen, Proteste gegen das Krisenmanagement der Europäischen Union, knapp 20.000 kamen. Obens ist zufrieden. Gleich fährt er in einem Sonderzug zurück nach Berlin, mit rund 900 Leuten, die eigens nach Frankfurt gereist sind.

Der Mann mit der Schirmmütze, 36, hat sich zu einem der Vordenker in der Interventionistischen Linken entwickelt. Das ist ein bundesweit agierendes Netzwerk, dem der Verfassungsschutz eine „Scharnierfunktion“ zuschreibt, zwischen gewaltbereiten Militanten auf der einen und gemäßigten Kapitalismuskritikern auf der anderen Seite. Anders als klassische Militante agiert die Interventionistische Linke weitgehend öffentlich. Sie hat die Pressesprecher in der linksradikalen Szene etabliert. Obens scherzt: „Für einige robuste Autonome sind wir doch nur bessere Sozialdemokraten.“

Er war einer der wichtigen Organisatoren bei den Blockaden von Heiligendamm. Bis heute witzeln einige seiner Freunde darüber, dass er damals einen Zivilpolizisten vor Prügel bewahrte. Demonstranten hatten ihn erwischt, als er Aktivisten zum Steinewerfen animierte. „Bullenbeschützer“, sagen sie zu Obens.

Seit Heiligendamm ist die Interventionistische Linke so etwas wie das Zentralkomitee für Massenblockaden und zivilen Ungehorsam in Deutschland. Sie brachte Tausende Menschen zu Neonaziblockaden nach Dresden, rief dazu auf, Gleise durch das Entfernen des Schotters für Castortransporte unpassierbar zu machen. Henning Obens kettete sich an eine Betonpyramide, um einen Neonaziaufmarsch im Berliner Osten zu verhindern. Und natürlich Blockupy.

Millionen Euro kostet der G-7-Gipfel. Das schätzt der Deutsche Steuerzahlerbund. Die bayerische Regierung rechnet nur mit 130 Millionen Euro

Quelle: Deutscher Steuerzahlerbund, Bayerische Landesregierung

Kilometer liegt das Hotel Elmau vom Münchner Hauptbahnhof entfernt. Die Bahn fährt nur bis nach Klais. Fahrzeit: 1 Stunde 43 Minuten

Quelle: Google Maps

Demonstranten könnte die Polizei in 40 Containern in Garmisch-Partenkirchen festnehmen. Es gibt auch Räume zur Kinderbetreuung

Quelle: G-7-Planungsstab der Polizei

Mal fand der G-7-Gipfel bisher in Deutschland statt. Zweimal in Bonn (1978, 1985), außerdem in München (1992), Köln (1999) und Heiligendamm (2007)

Quelle: Bundesregierung

Polizisten werden um Elmau im Einsatz sein, davon 2.000 auf der österreichischen Seite. 10.000 kommen aus Bayern, 7.000 aus anderen Bundesländern

Quelle: Bayerische Landesregierung

Kilometer ist der Sicherheitszaun um das Schlosshotel Elmau lang

Quelle: Süddeutsche Zeitung

In einem Erdgeschoss in Berlin-Neukölln hat die Interventionistische Linke ein Büro. In einem alten Filter quillt Kräutertee. Henning Obens, im Gesicht etwas runder als 2007 in Heiligendamm, sitzt in einem Ohrensessel. „Es ist wichtig, dass es den Protest in Elmau gibt, dass der Gipfel nicht ungestört ablaufen kann“, sagt er. „Aber bei begrenzten Ressourcen stellt sich die Frage, welche Schwerpunkte wir setzen.“ Die Zeit, in der die Gipfel der Mächtigen den Terminkalender der Aktivisten dominieren, ist vorbei. Sie wollen ihre Themen selbst bestimmen.

In Hamburg und Berlin arbeiten Dutzende Gruppen seit Jahren öffentlichkeitswirksam an stadtpolitischen Fragen, an vielen Orten kümmern sich Solidaritätsgruppen um Flüchtlinge, die Bewegung gegen das Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU wächst. Attac vermeldet einen Zulauf zu seinen Veranstaltungen wie lange nicht mehr. Auch die Interventionistische Linke in Berlin ist gut beschäftigt: Die Arbeitsgruppe Gesundheit unterstützt einen Streik an der Charité, die Stadt AG arbeitet zum mietenpolitischen Volksentscheid. Henning Obens wird an diesem Wochenende nicht nach Elmau reisen. Im brandenburgischen Neuruppin rufen Neonazis zum „Tag der deutschen Zukunft“. Außerdem feiert ein Freund eine Party.

Meuchefitz, ein winziges Dorf im Wendland, Mitte Mai dieses Jahres. Die Jahrzehnte des Atom-Widerstands haben stadtmüde Linke hierhergelockt. Den Landgasthof betreibt ein Wohnkollektiv. Über der Theke hängen schwarze Sterne, an der Wand noch die Plakate von der einzigen „Revolutionären 1. Mai Demo“ auf einer Dorfstraße zwischen Kirche und Rapsfeld.

Jedes Jahr im Frühling veranstalten die Aussteiger und Bauern im Wendland die „Kulturelle Landpartie“. An diesem Samstag herrscht Hochbetrieb. Auf dem Feld haben die Wochenendbesucher ihre Zelte aufgebaut, viele Kinder sind da. Im Zirkuszelt gibt es politisches Theater, vor dem Gasthof werden Pizzas gebacken, die Schlange ist lang. Johnny Dobra reicht eine Spinatpizza über die Theke und nimmt das Geld dafür entgegen. Der Erlös geht unter anderem ins Autonome Gebiet der Kurden in Nordsyrien.

Mit Freunden hat er im vergangenen Jahr einen lebensgefährlich erkrankten kurdischen Aktivisten aus der syrischen Stadt Qamischli nach Deutschland geholt. Wie Henning Obens hat auch Dobra nicht vor, nach Elmau zu fahren, „obwohl es mich schon in den Fingern juckt“, sagt er. Seit Heiligendamm sei schließlich „alles nicht besser geworden, im Gegenteil“. TTIP, die Toten im Mittelmeer, die Eskalation in der Ukraine. „Es war ja gerade die Stärke der Gipfelproteste, alles zusammenzutragen.“

Die Mobilisierung nach Elmau sei nicht mit der von Heiligendamm zu vergleichen, sagt er, die Aktivistinnen, die er kennt, seine Freunde, sie wollen nicht nach Elmau, „da muss ich jetzt auch nicht märtyrermäßig als Einzelkämpfer dahin.“ Zumal Bayern mit seiner harten Polizeilinie als Ort für Protest „ziemlich unattraktiv“ sei. Wahrscheinlich müsse er sich „damit anfreunden, diesen gigantischen Sicherheitsapparat diesmal einfach ins Leere laufen zu lassen.“

Nach dem Gipfel in Heiligendamm ist Dobra in die Altmark gezogen, eine Region im Norden Sachsen-Anhalts, sie grenzt an das Wendland. Er wohnt in einer Landkommune, hat mit anderen dafür gesorgt, dass es ein autonomes Zentrum gibt. „Aufbau regionaler Strukturen“, sagt er, „ein bisschen was im Kleinen.“ Seit einigen Jahren veranstalten er und seine Freunde im August das „War starts here“-Camp gegen den riesigen Truppenübungsplatz Altmark. Der Rückzug ins Lokale, das ist auch Strategie.

Neben den Kämpfen der Kurden sind Antimilitarismus und die Ukraine für ihn große Themen geworden. „Der Krieg ist näher an uns herangerückt“, sagt er. Im Sommer lud er mit seiner Rote-Hilfe-Gruppe ukrainische Kriegsgegner für eine Infotour durch Deutschland ein.

Haben solche Aktionen im Kleinen die großen Gipfelproteste abgelöst? Dobra findet es falsch, hier einen Gegensatz zu sehen. „Während der Gipfel können verschiedene Gruppen voneinander lernen“, sagt er, „das ist das Potenzial solcher Proteste.“

Das Landratsamt hat die meisten geplanten Demonstrationen für Sonntag untersagt. Ein Münchner Gericht hat in dieser Woche so gerade noch das Protestcamp in Garmisch-Partenkirchen erlaubt, das die Gemeinde verbieten wollte. In München demonstrierten am Donnerstag Tausende Menschen, in Garmisch sollen es am Samstag auch einige Tausend werden.

Henning Obens fährt nicht nach Elmau. Er demonstriert in Brandenburg.

Johnny Dobra hat in den Nachrichten verfolgt, wie die Behörden mehr und mehr Demonstrationen verboten haben. Am Mittwoch entscheidet er mit Freunden: Wir fahren doch.

Eva Stilz wird am Sonntagmorgen in ihren neuen, neongrünen VW Caddy steigen und zum vereinbarten Treffpunkt fahren. Sie möchte so nah wie möglich an das Schloss heran. Nach dem Gipfel will sie nie wieder in Elmau übernachten.

 Martin Kaul, 33, schreibt für die taz über soziale Bewegungen

 Christian Jakob, 36, ist taz- Reporter