Die Unaufhaltsame

POP Conchita Wurst wurde zur Botschafterin Europas. Dabei hat sie doch nur einen Gesangswettbewerb gewonnen

■ Wo läuft der ESC? Sowohl das Finale am 23. Mai als auch die ESC-Party in Hamburg übertragen die Sender ARD und EinsFestival, außerdem streamt eurovision.de. Ab 20.15 Uhr wird das Vorgeplänkel aus Hamburg übertragen, um 21 Uhr startet das echte Finale und um 00.15 Uhr geht es dann wieder zurück nach Hamburg.

■ Barrierefrei? Es gibt Untertitel für Hörgeschädigte und Live-Audiodeskription für blinde Menschen im Ersten, Letztes auch auf eurovision.de. Auf eurovision.de und auf EinsPlus wird das Finale außerdem in internationaler Gebärdensprache ausgestrahlt.

■ Und wenn ich die Sendung verpasst habe? Phoenix zeigt das Finale später in der Nacht, um 1.35 Uhr. Um 00.05 Uhr läuft dort „12 Punkte für Europa“, ein Film aus dem Jahr 2012 über die Geschichte des Eurovision Song Contest.

■ Was machen die denn hier? Australien ist zum 60. Jubiläum des ESC besonderer Gast. Sollte das Land gewinnen, wäre es beim nächsten Mal zwar wieder dabei, Ausrichter des Wettbewerbs wäre dennoch ein europäisches Land.

AUS WIEN, BERLIN, KÖLN UND HANNOVER JAN FEDDERSEN
UND SASKIA HÖDL

Am Tag, als Conchita Wurst den UN-Generalsekretär von der Bühne werfen lässt, trägt sie ein hochgeschlossenes dunkelblaues Kleid. „Wenn Sie nicht mitsingen wollen, würde ich Sie jetzt bitten, Platz zu nehmen“, sagt ein Herr im Anzug zu Ban Ki Moon. Conchita Wurst streicht dem Generalsekretär über den Arm, vorsichtig, entschuldigend. Ban, der sich gerade noch vor ihr verneigt hat, lacht kurz auf, wirft die Hände in die Luft und überlässt ihr den Platz vor der hellblauen UN-Wand mit den Weltkugeln. Sie nimmt noch einen Schluck Wasser. Dann fällt der Scheinwerferkegel auf sie: Conchita Wurst beginnt zu singen.

Es ist Anfang November 2014 in der UN-Niederlassung in Wien. „Believe“, von Cher, ist heute ihr Lied. Als sie fertig ist, darf Ban wieder auf die Bühne. „Thank you for your melody“, sagt der Generalsekretär.„Danke für Ihre Melodie.“

Man kann sich das alles auch Monate später noch auf YouTube ansehen, „Conchita Wurst meets the UN Secretary-General“, und man kann sich dabei fragen, warum diese Frau überhaupt dort steht? Eine Sängerin, statuenhafte Eleganz auf der Bühne, eine Grande Dame mit einer Stimme von überwältigender Klarheit, warmer Klang, dunkles Timbre. Aber dafür wird doch noch niemand vom UN-Generalsekretär eingeladen. Auch nicht Conchita Wurst.

Die Botschafterin Europas aber, die würde Ban Ki Moon durchaus einladen. Deshalb ist Conchita hier.

Natürlich hätte die Europäische Union auch eine offizielle Außenbeauftragte, Federica Mogherini, mit 23 Jahren bei der Jugendorganisation der italienischen Linksdemokraten, mit 41 Jahren jüngste Außenministerin ihres Landes, im selben Jahr Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik für 28 Staaten. Gewählt von den Staats- und Regierungschefs der Union, nach starkem Widerstand vor allem aus osteuropäischen Ländern. Mogherini galt als zu russlandfreundlich.

Conchita Wurst verfügt über ein robusteres Mandat. Sie hat einen Gesangswettbewerb gewonnen, in der einzigen Show, die sich mit Recht gesamteuropäisch nennen darf. Vierzig Länder nehmen an diesem Wochenende am Eurovision Song Contest teil, die Sendung wird unter anderem nach Australien, Indien, in die USA und sogar nach China übertragen, weit mehr als 200 Millionen Zuschauer werden sie sehen.

Das Publikum des ESC-Finales am 10. Mai 2014 hat Conchita Wurst gewählt. Per SMS und Anruf. Auch in Ländern, deren Herrscher Homophobes verbreiten wie Russland, Armenien oder Aserbaidschan. Und während die Europäische Union darüber zankte, wie der Euro noch zu retten sei oder wie sie umgehen soll mit einem aggressiveren Russland, konnte sich Europa auf Conchita Wurst einigen.

Sie sei, sagt Ban Ki Moon an jenem Nachmittag im November, eine Botschafterin für Respekt und Vielfalt, für Grundwerte der Vereinten Nationen. Und wie habe sie doch selbst in der Nacht ihres Sieges gesagt: Wir sind nicht aufzuhalten. Da ist er wieder. Ihr Satz. We are unstoppable. „Danke, dass Sie die Führung übernommen haben“, sagt der Generalsekretär. „Thank you for your leadership.“

Wer einen Eurovision Song Contest gewinnt, hat im Grunde vier Möglichkeiten: Er kann ein internationaler Star werden, das gelang geradezu feldzugartig Abba, den Gewinnern von 1974. Bei manchen reicht es für eine nationale Karriere, das Lied der deutschen Sängerin Nicole, „Ein bisschen Frieden“, können heute noch viele mitsingen. Die dritte Option ist der Schritt in ein anderes, verwandtes Feld im Showbusiness – Sandra Kim, die Gewinnerin von 1986 moderierte später im belgischen Fernsehen. Und für manche ist der ESC der Gipfel ihrer Karriere nach dem allenfalls noch eine gewisse Weinköniginnenprominenz zu haben ist. Conchita Wurst hat eine fünfte Kategorie eröffnet: Politikerin mit Popmandat.

Schmale Scheinwerferkegel, die Silhouette einer Frau, die Füße in Rauch gehüllt, mehr Licht, ein goldenes Abendkleid, Jubel, sie singt, bevor sie wirklich zu sehen ist. „Rise Like A Phoenix“, ein James-Bond-Sound, in der Stimme Wärme, dennoch eine gewisse Coolness. Kraft, die frei ist von Nervosität. Als sie am Ende des Finales die Trophäe entgegennimmt, ein riesiges Mikrofon aus Glas, wird sie den entscheidenden Satz sagen: We are unstoppable – Wir sind nicht aufzuhalten.

Am Abend des 10. Mai 2014 in einer ehemaligen Schiffsausrüsterhalle, gleich gegenüber der berühmten Meerjungfrau von Kopenhagen, formuliert Conchita Wurst damit ihr politisches Programm.

Es folgt, was Politikerinnen eben so zu absolvieren haben: Ansprachen bei Paraden der LGBTI-Communitys und das Entgegennehmen entsprechender Auszeichnungen. Besuch samt Rede im EU-Parlament plus Protest der Beatrix von Storch von der deutschen AfD. Anfeindungen aller Art im Ausland, von einem bulgarischen EU-Abgeordneten, von russischen Politikern, Conchita Wurst betreibe Propaganda von Homosexualität“ und führe ins „spirituelle Verderben“. Sie ist in einer Arte-Doku mit Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier zu sehen. Und eben Ban Ki Moon.

Conchita Wurst avanciert zur europäischen Heldin.

Nebenbei bleibt sie eine Künstlerin, die sich weiterentwickeln will.

März 2015, Hannover, Expo-Gelände, deutsche Vorentscheidung, Conchita Wurst, 26 Jahre alt, ist erstmals in einer größeren ARD-Show zu Gast. Sie singt ihren ESC-Siegestitel, danach ihr neues Lied „You Are Unstoppable“ – und erntet frenetischen Beifall. Sie ist die amtierende Königin dieses Contests, sie wirkt hier in der Provinz nicht so auf Adrenalin wie sonst. Warum auch? „Ist doch wie Kindergeburtstag hier, alles wie immer, ich habe das alles voriges Jahr geschafft“, sagt sie. Allein wenn sie auf das Zeichen zum Gang auf die Bühne wartet, wenn sie hinten steht und das Publikum sie noch nicht sieht, sammelt sie sich, spannt sich an. Sie ist auch in Hannover eine Figur, die darauf trainiert ist, in der entscheidenden Sekunde wach wie nie zu sein. Als die Regie sie zur Probe ruft, geht ein Ruck durch ihren Körper – als verlasse sie nun die Startbox für das Rennen. Ihre Blicke, eben noch im Irgendwo, scheinen zu leuchten. Keiner der deutschen Aspiranten auf die Fahrkarte nach Wien hatte dieses Talent: Sich zu fokussieren und nur an das zu denken, was man kann.

Als er ein Kind war, haben seine Eltern Tom Neuwirth für offizielle Anlässe in Anzüge gesteckt. Im Privaten allerdings durfte er Kleider tragen, sich ausprobieren. Und wenn der Sohn einen Rock im Kindergarten tragen wollte, tat er das. Conchita sagt, sie sei damals schon da gewesen, der Junge Tom musste nur auf den geeigneten Zeitpunkt warten, um sie rauszulassen. Das war notwendig, schreibt sie in „Ich, Conchita“, ihrer Biografie: „Was in uns steckt, können wir nicht unterdrücken. Tun wir es trotzdem, knallen uns eines Tages die Sicherungen durch.“ In dem Buch gibt es ein Foto von Tom Neuwirths Erstkommunion, auf dem er neidisch auf das weiße Rüschenkleid seiner besten Freundin sieht und die Finger danach ausstreckt.

Schwule Männer spielen in ihren Kinder- und Jugendjahren oft durch, wie es wäre, ein Kleid zu tragen, hohe Schuhe wie die Mutter. Wer Männer begehrt, lernen Söhne, muss sein wie die Mama – daher diese Irritation, die der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker die geläufige „Effeminisierung“ schwuler Jungs im Wartestand nennt. Die textilen Sehnsüchte sind auch Wünsche nach einer Maske, nach einem Schutz, hinter dem die reale Figur verschwinden kann: Conchita Wursts Roben lassen sich als Ritterrüstungen verstehen.

Um sich mehr trauen zu dürfen, muss Tom Neuwirth Conchita Wurst werden. Sie sagt: „Ich fühle mich anders, Tom spricht etwa im Dialekt – das würde ich nie tun. Ich merke auch, dass sich meine Umgebung verändert.“ Dass sie als Tom mit demselben Song den ESC ebenfalls gewonnen hätte, glaube sie nicht: „Weil ich als Tom auf der Bühne nicht so funktioniere, wie ich funktionieren kann. Ich hätte mich selbst blockiert. Ich bin viel überschwänglicher, ich bin übertrieben und ich liebe es. Das kann Tom nicht und der Performance hätte ein großer Teil gefehlt.“

Conchita Wurst trat in den Shows des ESC auf wie die souveräne Königin einer Popmonarchie, die alle anderen wie Mägde und Knechte aussehen ließ.

Beim Eurovision Song Contest hat es schon andere queere Performende gegeben. Ein Drag-Trio aus Slowenien, eine Drag-Performerin aus der Ukraine, Männer, die sich feminin schminkten und Frauen, die wie Kerle auftraten: Aber sie gaben oft kaum mehr als Witzfiguren. Conchita Wurst ist vielleicht heiteren Gemüts, aber das Klischee vom Mann, über den man lachen darf und soll, weil er Frauenkleider trägt, bedient Tom Neuwirth nicht. Conchita Wurst vergiggelt sich nicht. Sie ist eine ernsthafte Künstlerin, die im Alltag ein schwuler Mann ist.

„Danke, dass Sie die Führung übernommen haben“, sagt der UN-Generalsekretär. „Thank you for your leadership“

Dieser schwule Künstler hatte ein schützendes Elternhaus: Sei, wie du willst – aber du wirst der Sohn bleiben, den wir lieben. In ihrer Biografie schimmern auch die Demütigungen durch, die Tom Neuwirth in Bad Mitterndorf, Steiermark, zwischen Wald, Wiesen und Bergen erlitten hat, in der Schule, in der Nachbarschaft. Wie jeder schwule Mann vor dem Coming-out, wenn das eigene Begehren nicht zu den Wünschen der Nächsten passen will. Seine Kindheit verbrachte Tom spielend mit seinem älteren Bruder Andi und Freunden an der frischen Luft, bis sie hungrig ins Gasthaus der Eltern zurückkehrten. Er begeisterte sich für Stoffe und Kleider, er lernte nähen und richtete sich im Elternhaus ein kleines Atelier ein, wo er auch singen konnte. Mit 14 ging er nach Graz in eine Modeschule. Die Mitschüler machten ihm das Leben schwer.

Das Coming-out in einem Interview mit 17 Jahren, Tom Neuwirth hatte in der Castingshow „Starmania“ gesungen. Im Buch klingt es so, als hätte er das nicht ganz freiwillig erzählt, als habe die Redakteurin sehr gedrängt. All das konnte Conchita Wurst nicht verhindern.

Als sie in Hannover ihre dritte Single „You Are Unstoppable“ präsentiert, ist ihr Sieg fast ein Jahr her. Sie ist immer noch da. Sie weiß sich im angloamerikanischen Raum zu benehmen mit fließendem Englisch, hat Madonna getroffen, Cher imponiert und hat von Udo Jürgens kurz vor seinem Tod noch den Ritterschlag erhalten, er nannte sie „eine ungewöhnliche, sehr starke Künstlerin“.

Vor einer Woche wurde ihr Album veröffentlicht, ihr Terminkalender ist voll. Sie wird sich um Mode kümmern, sich mit Karl Lagerfeld treffen. Sie ist keine Weinkönigin.

Auf der re:publica-Konferenz in Berlin waren in diesem Jahr zwei Frauen von Pussy Riot zu Besuch, jene Punkerinnen, die Wladimir Putin mehr geärgert haben, als es das Operettenparlament in Moskau in den vergangenen Jahren zustande brachte, politische Künstlerinnen auch sie. „Punk ist“, sagten sie, „wenn man alles zerschlägt, alle Stereotype.“ Und Conchita Wurst sei „mehr Punk als alle anderen auf der Welt“.

Conchita die Punkerin? Macht kaputt, was euch kaputt macht?

Sie ist eine Kämpferin, aber sie tritt nicht, sie schlägt nicht.

Selbst dann nicht, wenn einer wie der Sänger Andreas Gabalier, eine Mischung aus Hansi Hinterseer und Elvis und einer ihrer Hauptkonkurrenten auf dem österreichischen Musikmarkt, sie ganz offensiv beleidigt. Bei einem Gespräch im März in Hannover erzählt sie, wie sie ihm auf einer Gala am Wörthersee begegnet ist. Gabalier habe gesagt: „Ich gebe Ihnen nicht die Hand.“ Sie darauf: „Das müssen Sie doch auch nicht.“

Aikido heißt eine Kampfsportart, die die Kraft des gegnerischen Angriffs ableiten will, um den Attackierenden mit seiner eigenen Wucht kampfunfähig zu machen. Der Gegner soll die Gelegenheit erhalten, Einsicht zu erlangen und nicht mehr anzugreifen. „Wenn du angegriffen wirst, schließe deinen Gegner ins Herz“, soll der Erfinder gesagt haben.

Es ist Mitte April. „Kommt rein, Mutti hat Limonade gemacht“, sagt Conchita Wurst und lacht. Sie steht in der offenen Küche einer Suite im exklusiven Berliner Soho House. In der Hand hält sie einen Glaskrug. Das Zimmer ist nur für Interviews angemietet. Sie trägt die Haare lang, einen Overall in Dunkelgrün und Schwarz und wie immer High Heels. Vor dem Gespräch schenkt sie Zitronenlimonade ein. Sie lässt sich in einen Sessel sinken.

Frau Wurst, war Andreas Gabaliers Satz, man habe es schwer, wenn man „als Manderl noch auf ein Weiberl steht“, als direkter Schlag gegen Sie zu verstehen?

„Das glaube ich nicht. Ich habe verstanden, was Andreas sagen wollte, aber er hat es mit den denkbar schlechtesten Worten gesagt. Ich kenne ihn zu wenig, um jetzt zu sagen, dass ich ihn deshalb nicht mehr leiden kann.“ Das ärgert Sie gar nicht?

„Nein, warum denn. Mich ärgern banale Dinge. Wenn jemand unpünktlich ist. Er soll sagen, was er denkt – aber ich fühle mich dann privilegiert, auch meinen Standpunkt vor dem Europäischen Parlament darstellen zu können.“

Den Gegner ins Herz schließen, das macht sie auch mit Wladimir Putin. Wenn Journalisten nach ihrer Haltung zur Schwulenfeindlichkeit des russischen Präsidenten fragen, sagt sie: „Was bedeutet es, Wladimir Putin zu sein? Welcher Druck lastet auf ihm? Damit entschuldige ich nicht seine diskriminierenden Gesetze. Aber durch dieses Verständnis würde ich ihm gerne sagen: Du weißt schon, dass es anders besser wäre.

Es gibt Vorbilder für eine solche Aikido-Politik. Die stets wartende Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin und ebenfalls eine mächtige Frau in Europa. Sie mag ihre Gegner nicht mit Herzwärme bekehren wollen, aber sie versteht sich gut darauf, die Energie, den Ärger stets bei ihnen zu belassen.

Merkel weiß auch, dass jemand, der kämpft, einen festen Stand braucht. Erdung. Deshalb lässt sie manchmal so Sätze fallen wie den, dass vor lauter Globalisierung und Computerisierung die schönen Dinge des Lebens wie Kartoffeln oder Eintopf kochen nicht zu kurz kommen dürften. So sieht Bodenhaftung aus. Ja, die Angela, die ist eine von uns.

Mal hat Modedesigner Jean Paul Gaultier beim ESC 2014 für Conchita Wurst abgestimmt, schreibt er in einem Brief an sie

Quelle: Biografie

wurde beim ESC 2014 für Conchita Wurst eine besondere Zahl. Startplatz: 11. Hotelzimmer: Nummer 11. Am 11. Mai Rückkehr nach Wien, Landung 11.16 Uhr

Quelle: Biografie

Plätze gab es zwei in Conchitas Leben. 2007 als Tom Neuwirth bei der Show Starmania. 2012 als Conchita Wurst beim österreichischen ESC-Vorentscheid

Quelle: taz

Kilometer fuhr Tom Neuwirth jeden Freitag von der Modeschule in Graz zu den Eltern in Bad Mitterndorf

Quelle: Biografie

Perücken besitzt Conchita Wurst. Das erzählte sie Gästen während eines Treffens beim Radiosender Ö3

Quelle: taz

Wochen lang war Conchita Wursts Lied „Rise Like A Phoenix“ in den österreichischen Charts

Quelle: austriancharts.at

Damit man Conchita Wurst das abnimmt, muss sie ein wenig mehr tun. Sie muss die Dinge penetranter sagen.

Ihr Manager fragt sie zwischen zwei Presseterminen in Berlin, worauf sie Appetit habe. Sie sagt: „Bestellt irgendwas, ich esse doch eh alles.“

Sie sagt, sie sei langweilig.

„Deswegen war ich in der Reality-Show ‚Wild Girls‘ in Namibia auch fehl am Platz. Ich bin kaum vorgekommen, denn ich seh’ mir lieber die Natur an, als mich mit jemandem zu streiten.“

Würde sie das als Kontaktanzeige formulieren, ginge die in etwa so: Unkomplizierte Naturliebhaberin, die es gerne bequem mag und auch beim Essen keine Umstände macht, sucht Freunde fürs Leben. Kleiner Hinweis: Unpünktlichkeit geht gar nicht, das finde ich respektlos.

Und dann trifft man eine Frau mit Bart und Goldkleid.

Die Wurst als Politikerin und Künstlerin darf den Kreis ihrer Wähler und Käufer nicht zu sehr irritieren. Anders sein und das bei anderen akzeptieren, ja, das ist ihre Botschaft, aber so anders sein, dass sie als Abgehobene, Außerirdische erschiene, nein, sie möchte niemanden verprellen. Da hilft das betont Pragmatische. Sie will nicht nur für die Menschen attraktiv sein, die sie lieber als brachiale Kämpferin für die Rechte von Lesben, Schwulen und Transleuten sehen würden.

Dabei ist unbestritten, dass das Ereignis ihres größten Triumphes, der Eurovision Song Contest, für queere Leute einzigartig ist. Durch den Modus der Punktevergabe war er immer schon eine Popshow mit sportlicher Struktur und zugleich eine Show, die von Heterojungs abgelehnt, von Heteromädchen nicht bekennend gefördert, aber umso mehr von schwulen Männern geguckt wurde. Der ESC ist singulär als Entertainment, der das Muster von Junge-will-Mädchen oder Mädchen-schmachtet-Jungen-an durchbricht. Und zwar weil er schon immer die publikumsstärkste europäische Show war, aber von den Coolen abgelehnt wurde: Der schlechte Ruf war die Chance für queeres Performen, dort eine Bühne zu erhalten – wollte ja sonst niemand.

Aber der Vorwurf, der Eurovision Song Contest sei eine schwule Show und könne deshalb nicht für voll genommen werden, zieht leider so gar nicht, denn: 150 Millionen Zuschauer im Finale – so viele schwule, lesbische oder Trans*-Menschen gibt es in Europa nicht.

Conchita Wurst schafft es, so würden Politikjournalisten formulieren, ihre Stammwählerschaft zu mobilisieren, ohne die Mitte zu verprellen. Und anders als Merkel hat sie die Gabe zu begeistern. Siegerinnen eines ESC werden nur solche, die auf den Punkt, in drei Minuten, diese gewisse Aura des Mitreißenden mit der Magie des Augenblicks verbinden können. ESC ist, wenn alle Promomaschinen wirkungslos bleiben müssen, weil Europa als Marketingfeld nicht gemeinsam funktioniert. Gewinnen kann nur, wer wie aus dem Nichts zu verführen weiß: sympathisch, natürlich, eventuell nur für diesen einen Moment zustimmungswürdig. Und: Wer das Natürliche nur vorgibt, bekommt die wenigsten Punkte.

Das Publikum will spüren, dass da eine oder einer sich anstrengt, als ginge es ums eigene Leben – aber die Figur darf sich nicht anbiedern, also irgendwie keck wirken oder witzeln. Wer nicht zur Identifikation einlädt, hat schon verloren. Bei Conchita Wurst hat das Publikum die Einladung angenommen.

Bleibt die Frage, was aus Conchita Wurst noch werden kann? Politikerin ist sie schon. Was ist mit der Künstlerin? Wird sie eine Nicole in Österreich? Abba als Soloshow?

Conchita die Punkerin? Macht kaputt, was euch kaputt macht? Sie ist eine Kämpferin, aber sie tritt nicht, sie schlägt nicht

In der vergangenen Woche ist ihr Debütalbum „Conchita“ erschienen. „Rise Like A Phoenix“, ist drauf, der Rest der Platte geht weg vom James-Bond-Sound. Das muss so sein, denn ihr Siegerlied war nicht radiotauglich, zu viel der großen Geste nervt schnell beim Zuhören.

Conchita singt nun Balladen wie „Pure“. „Out Of Body Experience“ klingt orientalisch, „Where Have All The Good Men Gone“ nach Swing. Dazwischen immer wieder Electrobeats. In „Firestorm“ belebt sie sogar den Eurodance wieder. Hallo 90er.

Sie sagt, die Platte sei ihre persönliche Playlist – was sie damit sagen will, ist, dass sie sich nicht auf eine Richtung festlegt. Sie hält sich alles offen.

Es ist Anfang März in Wien. Conchita sitzt bei Ö3, dem größten Radiosender Österreichs. Ihre Biografie „Ich, Conchita“ ist gerade erschienen, sie liest daraus, das möchte sie jedenfalls, doch dann laufen einer jungen Teenagerin, die auf dem Rücken ihres Handys ein Foto von Conchita hat, Tränen über die blassen Wangen. „Schätzchen, warum weinst du denn“, sagt Conchita Wurst und hebt ihren zierlichen Körper, auf die Lehnen des weißen Ledersessels gestützt, elegant aus dem Sitz. In den zwölf Zentimeter hohen Leoprint-Lackstilettos trippelt sie über den weißen Teppich, so schnell es der schwarze Bleistiftrock zulässt. Sie nimmt das schluchzende Mädchen in der ersten Reihe in den Arm. „Ich bin doch nicht Madonna – alles ist gut“, sagt sie.

Dreißig Tickets wurden für die Lesung verkauft. In einem Halbkreis sitzen in der Redaktion des Radiosenders alle um Conchita Wurst: Fans aus allen Altersklassen, junge Herren mit Blumensträußen, viele junge Frauen aber auch ältere Damen mit Gleitsichtbrillen – sie haben sich hübsch gemacht, aufg’mascherlt, wie man hier sagt.

Was hat Tom Neuwirth beim Sieg von Conchita Wurst gedacht, fragt jemand? „Ich habe in dem Moment nicht gedacht, ich habe nur gefühlt. Und auch wenn ich optisch zwei Persönlichkeiten habe, habe ich nur ein Herz“, sagt sie. Wie sich so ein ESC-Sieg überhaupt anfühle? Überwältigend, sagt sie und: „Davor habe ich noch nie was gewonnen, nicht mal mit einem Los auf einem bescheuerten Schulball.“

Eine junge Frau aus dem Publikum bedankt sich für alles, was Conchita getan hat. Sie macht ihr Komplimente, wie schön sie sei und dass ihr die Haare sehr gut gefielen. „Kann man kaufen“, sagt Conchita knapp und lacht.

Am Samstagabend wird Conchita Wurst „Good evening Europe“ in ihr Mikrofon rufen. 10.000 Menschen werden in der Wiener Stadthalle sein, Madonna ist hier aufgetreten und Céline Dion. 1.288 weiße Lichtstelen, 629 Lichtkugeln, Tänzer. Sie wird noch einmal „Rise Like A Phoenix“ singen und oft das Kostüm wechseln. Sie wird den ESC-Kandidaten Fragen stellen, Komplimente machen, Händchen halten. Sie wird noch einmal die Königin dieses Abend sein.

Jan Feddersen, 57, ist taz-Redakteur für besondere Aufgaben. Er bloggt auf der NDR-Plattform eurovision.de über den ESC und ist Autor mehrerer Bücher zum Thema

Saskia Hödl, 30, ist Autorin der taz.am wochenende. Sie ist Wienerin und lebt in Berlin