Bemerkenswerte Liebesszene

CANNES CANNES 6 Um halb drei in der Früh macht Miguel Gomes seiner Freundin einen Heiratsantrag

Ein Strand-Club am äußersten Ende der Croisette. Der DJ spielt Stücke von David Bowie, The Cure und The Clash, die Gäste tanzen neben einem Pool, gefeiert wird die Premiere der ersten beiden Teile des Triptychons „As mil e uma noites“ („Arabian Nights“). Gegen halb drei in der Früh macht Miguel Gomes, der Regisseur aus Lissabon, der die Quinzaine des Réalisateurs mit diesem wunderbaren Film beschenkt, seiner Freundin einen Heiratsantrag, und alle klatschen, zücken die Smartphones und speichern das Glück dieser Nacht.

Klingt wie aus der Regenbogenpresse? Vielleicht. Aber selbst wenn – es passt gut zu Gomes’ Methode des Geschichtensammelns und -weitertragens. Abgeschaut hat er sie sich von Scheherazade, die im Film mal als Punk, mal als Luftgeist, mal als Stimme aus dem Off agiert. Bekanntermaßen droht ihr der Tod, sollten die Geschichten, die sie dem König Schahrayar erzählt, nicht mehr dessen Neugier wecken. „As mil e uma noites“ – bzw. die ersten beiden Teile, „O inquieto“ (Der Unruhige) und „O desolado“ (Der Verzweifelte), die Vorführung des dritten Teils steht noch aus – schichtet Erzählungen über- und aufeinander, dehnt manche aus, lässt andere fallen, und wieder andere staucht er zu Vignetten wie die vom Papagei, der nur noch fettarme Körner zu sich nehmen darf. Die Grundlage für das unermüdliche Mäandern sind Motive aus „Tausendundeiner Nacht“, die überschießende Fantasie des Regisseurs, vermischte Nachrichten, außerdem von mehreren Journalisten recherchierte Geschichten von Menschen, die die Konsequenzen der Sparmaßnahmen ertragen, die über Portugal verhängt wurden.

Das Berückende daran ist, wie Gomes zwei scheinbar auseinandertreibende Dinge kombiniert: seine Anteilnahme an der Not vieler Portugiesen und seine Liebe zu den Schatzhöhlen der Fiktion. „As mil e uma noites“ kombiniert nüchtern vorgetragene Berichte von Arbeitslosen, die von 150 Euro Unterstützung im Monat leben, mit burlesken Sequenzen, in denen die Abgesandten der EU-Kommission qua Wundermittel zu Erektionen kommen, hinzu gesellen sich die stumme Erzählung eines Olivenbaums oder die Konversation, die ein Richter mit einem Hahn führt: „Ich krähe so viel, weil ich die Leute vor kommenden Katastrophen warnen muss“, sagt das Tier. Ob das den Richter milde stimmt, ist eine der unbeantworteten Fragen, die als lose Fäden durch den Film wehen. Warum er nicht im Wettbewerb läuft, weiß einzig und allein der König Schahrayar der Auswahlkommission.

Das gleiche gilt für Apichatpong Weerasethakuls „Rak Ti Khon Kaen“ („Cemetery of Splendour“), der auf einen Platz in der Nebenreihe „Un certain regard“ verwiesen wurde. Ähnlich wie Gomes unternimmt der thailändische Filmemacher erst gar nicht den Versuch, die Vielzahl der Geschichten, die in seinen Film einfließen, in eine Ordnung zu bringen. Genauso wenig benötigt er seine verlässliche Realitätsebene; bei ihm haben Träume, die Taten von Geistern und die Präsenz des Abwesenden ähnliche Wirkmacht wie das, was zwischen den Figuren vor sich geht. Neben vielen anderen sanften Attraktionen bietet „Rak Ti Khon Kaen“ die bemerkenswerteste Liebesszene des bisherigen Festivals: Jen, die Hauptfigur (Jenjira Pongpas Widner), eine ältere Frau, zeigt einer jungen Frau Narben an ihrem Oberschenkel. Die Jüngere, Keng (Jarinpattra Rueangram), ist ein Medium, das heißt, das leibliche Gefäß für einen Abwesenden, nämlich für den Soldaten Itt, der an einer rätselhaften Krankheit leidet und zu dem Jen sich hingezogen fühlt. Keng beziehungsweise Itt gießt einen Saft aus Goji-Beeren auf das entblößte Bein und leckt und küsst es in einer langen Einstellung. Jen kichert und lässt es geschehen. CRISTINA NORD