Mein alter Freund Herr Körbel

HERDANZIEHUNG Kerbel macht selbst einen Hammel auf dem Teller vergessen. Er passt zum Spargel und ins Pesto. Nur zu heiß darf es ihm nicht werden und frisch muss er sein

Morchel-Kerbel-Butter weist jeder Sauce Hollandaise den Weg in die Vergessenheit

VON DENNY CARL

Wenn es in meinem Leben einen Moment der kulinarischen Erweckung gegeben hat, dann ereignete sich jener im Örtchen Schwaneberg, inmitten uckermärkischer Abgeschiedenheit. Dort stand damals das alte Bauernhaus meiner Tante und meines Onkels. Aus der großen Küche wurden grüne Bohnen mit Hammel und Kerbel zur mittäglichen Verköstigung gereicht. Grüne Bohnen? Kannte ich, mochte ich. Gab es oft bei Oma. Aber das andere? Mein innerer Diskurs zu Pro und Contra bei Hammel verebbte sofort, da eine wichtigere Frage aufkam: Was ist ein Kerbel? Vertragen es Kinder wie ich überhaupt?

Als sich auf dem Tisch neben den Suppentellern ein kleines hellgrünes Gebirge mit glitzernden Wassertropfen erhob, war die Sache klar: Neben Petersilie, Dill und Schnittlauch gab es offenbar noch mehr, was man sich in rauen Mengen übers Essen streuen kann. Es mundete sehr und seither immer wieder.

Kerbel ist essbarer Frühling. Es ist in unseren Breiten das erste Küchenkraut im Jahr, das aus dem Boden lugt. Manchmal kann man schon im März die mit ätherischen Ölen vollgepumpten, federartigen Blättchen ernten. Jedes Jahr sehne ich mich nach dem Moment, in dem Daumen und Zeigefinger dem ersten Blatt meiner Kerbelaufzucht zupfend habhaft werden. Jene Wonne vermag kein anderes Kraut der Welt, selbst wenn man es mir getrocknet, in Zigarettenpapier und angezündet reichte.

Man kennt Kerbel auch als Gartenkerbel, Körbel oder Suppenkraut, was seiner Vielseitigkeit in der kalten und warmen Küche allerdings hohnspricht. Franzosenpetersilie ist noch so ein Etikettenschwindel. Frankreich war zwar das Land, in dem der erste Kerbelsamen in mitteleuropäische Krume fiel, doch würde Kaukasenpetersilie zur Verdeutlichung des Kerbelkernlandes wesentlich zutreffender sein. Auch in Grabbeigaben ägyptischer Pharaonen fand man Kerbelsaatgut. Es zeigt, dass Tutanchamun und ich mindestens eine gemeinsame Vorliebe teilen. Es könnte auch sein, dass die Nilanrainer ihrem toten Oberhaupt den Aufbau einer Reiseapotheke für den langen Weg ins Jenseits vereinfachen wollten. Denn Kerbel reinigt das Blut, entschlackt und regt die Verdauung an.

Die heilende Wirkung und die feine Anisnote des Doldenblütlers können aber auch leicht verloren gehen. Der sensible Herr Körbel erduldet nur kurze, nicht allzu heiße Suppen- oder Saucenbäder. Übertreibt man es, wird er schnell geschmacklos. Dieses Resultat droht auch jenen, die seine Frühlingshaftigkeit für trübere Tage zu konservieren suchen. Eingefroren, getrocknet oder in Öl verwahrt hält er sich zwar lang. Allein, es lohnt sich nicht. Kerbelfreunde wissen: Noch in der Stunde seiner Rodung sollte Kerbel auf einem Küchenbrett sanft gebettet, mit einem scharfen Messer klein geschnitten und dann unverzüglich genossen werden.

So war es auch, als ich jüngst der Herdanziehung erlag: in einem kleinen Topf geschmolzene Butter kurz vor der Bräune, dazu Morcheln, Salz, Pfeffer und Senf. Kurz vor dem Anrichten kam eine gute Handvoll Kerbel dazu und vollendete die Morchel-Kerbel-Butter, die jeder Sauce Hollandaise den Weg in die Vergessenheit weist. Über weißen Spargel und Kartoffelstampf mit gerösteten Zwiebeln gegossen, noch zwei gekochte Eier auf den Teller gerollt und ein kleiner Gurkensalat mit viel Dill dazu – fertig war das Frühlingsmahl.

Wer sein Dasein ohne Garten- oder Kübelkerbel fristen muss, findet gerade jetzt Trost auf Berlins Wochenmärkten. So zum Beispiel an den Ständen der BioKräuterei Oberhavel auf Kollwitz-, Winterfeldt- und Karl-August-Platz. Dort gibt es neben Bio-Küchenkräutern vom ökologisch und sozial nachhaltig bewirtschafteten Speckgürtelacker auch jede Menge leckere Wildkräuter. Beim letzten Besuch tauchte neben mir eine Dame auf, die nervös fragte, ob es denn heute kein Petersilienpesto gebe. Gab es. Und ich fragte mich: Geht Pesto auch mit Kerbel? Es geht, sehr gut sogar. Kaukasenpetersilienpesto kommt definitiv in den nächsten Picknickkorb. Damit geht es dann in die Uckermark. Vielleicht ins Örtchen Schwaneberg.