Die Bilderwelt zum Sprechen bringen

PORTRÄT In ihrer Kunst sucht sie Kraftfelder der Vergangenheit – um sie auch für die Gegenwart zu retten. Wie die Miniaturen von den Gefangenen in Ravensbrück, die Antje Majewski malend verewigt

VON MICHAEL FREERIX

Durch das große Fenster sieht man auf einen Bahndamm, über den ein ICE rollt. Sein metallener Lärm dringt in das Atelier von Antje Majewski, das in einer leicht unwirtlichen Gegend mit Verwaltungsgebäuden, Büros und partieller Wohnbebauung im Wedding liegt. Die Räume sind hoch, hell, eine ehemalige Fabriketage, 120 Quadratmeter groß. 860 Euro kostet sie im Monat. „Ganz schön viel“, findet Majewski. Deshalb teilt sie die Räume mit drei anderen Künstlern, von denen einer seinen Bereich nur als Lager nutzt. „Ich habe einen langfristigen Mietvertrag, bin schon seit 2005 hier und hatte bis jetzt eine moderate Mieterhöhung“, sagt sie.

In Sichtweite entstehen derzeit Luxusappartements. Sie befürchtet, dass nach deren Fertigstellung „der Mietspiegel in der ganzen Gegend steigt“. Ohne Mitmieter könnte sie die Räume derzeit gar nicht bezahlen, malen aber kann sie im Atelier grundsätzlich „nur alleine“.

Zur Kunst kam Antje Majewski, Jahrgang 1968, auch, sagt sie, weil „ich aus Düsseldorf komme und mich schon in der Schule mit Beuys beschäftigt habe“. Studiert hat sie dann Kunstgeschichte, Philosophie und Geschichte in Köln, Florenz und Berlin. Sicher hat der von Beuys geprägte Begriff der „sozialen Plastik“ – die Vorstellung einer Kunst, die die Gesellschaft verändern will – einen dauerhaften Einfluss auf Majewski.

Majewski nutzt dabei die Malerei als Basismaterial für ihre Zwecke. Neben diese legt sie Bruchstücke aus Ethnografie, Literatur und Kunstgeschichte, um ihre Ausstellungen in üppig wuchernde Installationen zu verwandeln: „Ich habe mehr und mehr Lust, die Bilder noch viel komplexer zu machen und untereinander zu verknubbeln und lauter Scharniere einzubauen und immer noch mehr Parallelerzählungen, die alle aufeinander verweisen. Und die aber in einer gewissen Weise trotzdem noch diese Leerstelle umkreisen, die der Betrachter dann selber füllen muss.“

Majewskis Gimel-Welt

Seit den nunmehr gut zwanzig Jahren ihres Kunstschaffens hat Majewski auf diese Weise eine Gimel-Welt, wie sie sie nennt, erschaffen. Mit dem hebräischen Buchstaben Gimel, dessen Schreibweise sie an einen gehenden Menschen erinnert, bezeichnet sie ihre Objekt- und Bilderwelt, die zum Sprechen gebracht werden soll: untereinander, mit anderen und mit dem Zuschauer. Die Gimel-Welt fragt nach den Beziehungen aller Vergangenheiten und Zukunften untereinander und zu uns.

Zu ihrer Ausstellung 2011 im Kunsthaus Graz erschien eine Art Werkkatalog mit vielen Texten, Interviews, Bildern und einer DVD. Majewski stellt darin vor, wie sie die Materialien nach ihren Relationen zueinander und zum Betrachter befragt: „Ich möchte einfach, dass Kunst eine unmittelbare Übertragung von Erfahrungen oder Leben bedeuten kann.“ Viele der von ihr zusammengetragenen Fundstücke ihrer Gimel-Welt werfen aber auch Fragen auf, die sie auf Reisen zu deren Herkunftsorten zu klären versucht. Dabei entdeckte sie, dass „man die Dinge nicht ihrer Geschichte berauben darf, denn diese ist immer auch die Geschichte der Menschen, durch deren Hände diese Dinge gewandert sind. Aus ihrem Kontext herausgelöst, sind diese Dinge sinnlos, denn sie sind ihrer sozialen Verankerung beraubt.“

Miniaturen-Kunst im KZ

Einer der Themenblöcke, an dem sie dabei seit vielen Jahren arbeitet, ist das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Der Nationalsozialismus war in ihrer Familie nie ein Thema gewesen. Angeblich wusste damals auch niemand in ihrer Familie von den Konzentrationslagern. Mit dieser Leerstelle in ihrer Familiengeschichte wollte sich Majewski nicht einfach so abfinden. Bis sie sich das erste Mal in die Gedenkstätte in Ravensbrück traute, dauerte es aber. Sie hatte Angst vor der negativen Energie, die dieser Ort in sich barg.

Der Besuch dort bedeutete dann eine einschneidende Zäsur in ihrem Leben. Vor allem die in Ravensbrück ausgestellten Miniaturen beeindruckten sie zutiefst: Objekte, die von den Gefangenen gemacht wurden. Sie nutzten Zahnbürstenstiele aus Plastik, um winzige Figuren wie Hunde, Vögel, Schlüssel, Messer oder Kleeblätter zu schnitzen. Die konnten als Glücksbringer dienen oder wurden anderen Gefangenen aus Zuneigung geschenkt.

Für Majewski zeugen diese Miniaturen von der Stärke der Opfer, sich ihr Menschsein zurückzuerobern.

Doch diese winzigen Objekte drohen zu zerfallen. Noch schlimmer, die Ausdünstungen des Plastiks bewirken die Zerstörung von anderen Ausstellungsgegenständen, sodass sie heutzutage in erster Linie auf Fotografien zu sehen sind. Deshalb begann Majewski, diese Miniaturen zu malen, um sie – vergrößert – sichtbar zu machen und sie gleichzeitig in ihren Bildern auch zu konservieren.

Angetrieben zu dieser Arbeit hat sie im Hintergrund dazu die Frage, auf welche Tradition sie sich als Künstlerin bezieht: „Wir konstruieren Geschichte an Hand von Bildern. Doch auf welche Bilder berufen wir uns?“ Und zwischen 1933 und 45 wurde die Bilderproduktion in Deutschland eben von den Nationalsozialisten dominiert. Mit ihren Miniaturen aber konnten die Gefangenen in Ravensbrück den Stacheldrahtzaun um sie herum überwinden. „Für mich“, sagt Majeweski, „sind die Verfolgten, die Verfemten meine Vorbilder.“ Die Humanität der Miniaturen strahlt für die Künstlerin in die Gegenwart hinein.

Da aber die eigentlichen Urheber ihrer Gemälde im Grunde ehemalige Gefangene sind, ist es für Majewski nur konsequent, mit diesen Bildern kein Geld verdienen zu wollen. Auch ihre Galerie profitiert nicht an deren Verkauf. Je zur Hälfte geht der Erlös an die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und an die Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative Stay! Gerade, weil viele Deutsche in der Vergangenheit nur überleben konnten, weil andere Länder ihnen Asyl gewährten, setzt sich Majewski für ein Bleiberecht von Flüchtlingen in Deutschland ein.

Doch jenseits dieses politischen Ansatzes geht es in ihrer Kunst um Kommunikation: „Ich fände es schön, ich könnte bei denjenigen, die das anschauen, eine Verwandlung erzeugen.“ Durch ihre Arbeit möchte sie Kraftfelder aus der Vergangenheit bündeln und in die Gegenwartswelt transportieren: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschheit über bestimmt 20.000 Jahre ihre Kleider, Kissen, Möbel oder auch Waffen verziert hat, mit einem unglaublichen Zeitaufwand, und dass dieser Impuls des Sich-Aneignens von den Dingen, die einen umgeben, einfach verloren geht.“ Diesen Impulsen des Sich-Aneignens will Majewski in ihrer Kunst nachspüren – und Leerstellen finden, in die sich der Betrachter mit einbringen soll. Denn: „Bilder müssen offen sein, müssen einen Denkraum ermöglichen.“

www.antjemajewski.de