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Archiv-Artikel

Blockierte Erinnerung

OFFENE RECHNUNG Die Forderung der Griechen nach Reparationen bringt eine Vergangenheit ins Bewusstsein, die fast kein Deutscher kannte. In Griechenland ist sie sehr präsent

Nikos Konstandaras

■ ist Redakteur und Kolumnist der Athener Tageszeitung „Kathimerini“ sowie Gastkommentator der „New York Times“. Geboren und aufgewachsen ist er in Südafrika. Seit 1989 arbeitet er in Athen, schreibt aber auch Reportagen aus anderen Ländern Südosteuropas.

VON NIKOS KONSTANDARAS

Das Thema der deutschen Reparationszahlungen ist komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. Weil das Problem seit 70 Jahren nur untergründig präsent war, erinnert sich kaum jemand, warum Athen nicht schon früher härtere Positionen bezogen hat. Die Gründe erklären zugleich, warum die Reparationsfrage ein so dorniges Thema ist.

Die Ansprüche umfassen drei Aspekte: Reparationen für materielle Zerstörungen, Rückzahlung einer Zwangsanleihe und Entschädigung für Überlebende und Nachkommen der Opfer einer brutalen Besatzungspolitik. Dass diese Forderungen so lange nicht erhoben wurden, hat wiederum drei Gründe: die innenpolitischen Verhältnisse, die Beziehungen mit Deutschland und die weltpolitische Konstellation zur Zeit des Kalten Kriegs.

Seit Januar ist in Athen erstmals eine radikale Linke an der Macht, während das Land zugleich am Rande des Bankrotts steht. Die Forderung nach Reparationen ist nur eine von mehreren Initiativen, mit der die neue Regierung ihre europäischen Partner/Gläubiger herausfordert. So prüfen zwei Untersuchungsausschüsse die Zustimmung der Vorgängerregierungen zu den Bail-out-Programmen der Troika sowie welcher Teil der griechischen Schulden als „unmoralisch“ gelten kann und nicht zurückzuzahlen ist.

Die Syriza-Regierung will mit solchen Initiativen zeigen, dass sie weder innen- noch außenpolitisch auf die traditionellen griechischen Positionen festgelegt ist. Selbst wenn sie von Berlin nichts bekommen sollte – was gut kann sein –, demonstriert sie, dass sie „patriotischer“ ist als frühere Regierungen und keinerlei Rücksicht auf deutsche Empfindlichkeiten nimmt.

Und noch etwas: Die Linkspartei hat ihre historischen Wurzeln in dem von Kommunisten angeführten Widerstand gegen die Nazi-Besatzung; zudem wurde die griechische Linke nach dem brutalen Bürgerkrieg (1946–1949) jahrzehntelang unterdrückt. Die Forderung nach Reparationen unterstreicht also die politische Kontinuität des Widerstands und damit die historische Legitimität der Linken.

Die erste Amtshandlung von Ministerpräsident Alexis Tsipras war von hoher Symbolik: ein Besuch an der Gedenkstätte von Kaiseriani, wo am 1. Mai 1944 die Nazi-Okkupanten 200 kommunistische Widerstandskämpfer exekutiert hatten.

Am 6. April verkündete Vizefinanzminister Dimitris Mardas, nach griechischen Unterlagen belaufe sich die zu fordernde Summe auf 278,7 Milliarden Euro. Darin sind die 10,3 Milliarden Euro enthalten, die den 476 Millionen Reichsmark entspricht, die als Rückzahlung einer Zwangsanleihe der deutschen Besatzer fällig sind. Die 269 Milliarden Euro für Reparationen errechnen sich aus der Zerstörung der Infrastruktur und von 1.770 Dörfern: 1940 hatte jede griechische Familie ein Zuhause; 1945 war ein Fünftel obdachlos. Berücksichtigt sind zudem die etwa 500.000 Menschen, die von den Deutschen umgebracht oder Opfer der Hungerkatastrophe wurden, die durch die Plünderungspolitik verursacht war. Zu den Toten zählen die 67.000 in Auschwitz ermordeten Juden und etwa 20.000 Geiseln, die von den Deutschen hingerichtet wurden.

Griechenland hat gute Gründe, die Reparationen zu fordern. Die Pariser Konferenz von 1946 sprach dem Land 7 Prozent der von Deutschland erwarteten Entschädigungssumme zu, 1953 wurden die Reparationen „bis zu einer friedensvertraglichen Lösung“ suspendiert. Als die deutsche Wiedervereinigung 1990 geregelt wurde, fiel die Reparationsfrage unter den Tisch.

Seitdem beteuern alle deutschen Regierungen, das Thema habe sich erledigt. Die Griechen fühlen sich hintergangen. Und so wurden im Zuge der griechischen Schuldenkrise die alten Stereotype wiederbelebt, zum Beispiel in Zeitungskarikaturen, in denen deutsche Politiker in Nazi-Uniform wie eine neue Besatzungsmacht agieren.

Hunderte Gedenkstätten erinnern in griechischen Städten und Dörfern an das monumentale Unrecht

Warum haben frühere Regierungen in der Reparationsfrage gekuscht? Die Okkupation hinterließ ein brutalisiertes und polarisiertes Land. Es folgte ein Bürgerkrieg, in dem die Regierung viele ehemalige Rechte rekrutierte, die mit den Deutschen kollaboriert hatten. Später hat dann keine Regierung mehr riskiert, den deutschen Verbündeten die volle Rechnung zu präsentieren, aus Angst, die innenpolitischen Kräfteverhältnisse zu gefährden. Die relative soziale Stabilität beruhte auf wirtschaftlichem Wachstum, das wiederum gute Beziehungen mit dem maßgeblichen EU-Land voraussetzte.

In Griechenlands gibt es Hunderte Gedenkstätten, die an Kriegsverbrechen der Besatzungszeit erinnern – an ein monumentales Unrecht, das die griechische Gesellschaft bis heute empfindet. Die Deutschen dagegen erleben plötzlich die Wiederkehr einer „unterdrückten“ Vergangenheit, die fast niemand kannte.

Dieses Kapitel der Geschichte muss irgendwie bewältigt werden, ohne dass das griechisch-deutsche Verhältnis weiter Schaden leidet. Dazu ist auf politischer Ebene ein Maß an Takt und Sensibilität vonnöten, das auch auf anderen Ebenen leider nicht zu sehen ist.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke