Schwindende Zeitgenossenschaft

ESSAY Mit ihren verkörperten Erinnerungen berühren die noch übriggebliebenen „jungen Überlebenden“ die Nachgeborenen. Doch das Ende solcher Begegnungen ist in Sicht

■ geboren 1955, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er war Mitglied der Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amts in der NS-Zeit und ist unter anderem Vorsitzender des Wissenschaftlichen Kuratoriums der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie des Wissenschaftlichen Beirats des Koebner Minerva Center for German History an der Hebrew University Jerusalem.

VON NORBERT FREI

Als Marko Feingold vor wenigen Wochen auf dem ehemaligen Appellplatz in Buchenwald mit fester Stimme die antifaschistische Legende von der Selbstbefreiung des Lagers im Frühjahr 1945 zurückwies – tatsächlich hatte sich die SS vor den anrückenden Amerikanern davongemacht –, da blitzte nicht nur eine überwunden geglaubte geschichtspolitische Kontroverse wieder auf. Die Szene erhellte schlaglichtartig auch die Konditionen des Gedenkens 70 Jahre nach Kriegsende: Die allermeisten derer, die sich heute „erinnern“ sollen, sind nach den Ereignissen geboren.

Kraft eigener Rückbesinnung vermögen heute fast nur noch die seinerzeit Heranwachsenden Zeugnis abzulegen: auf der einen Seite die Generation der in der zweiten Kriegshälfte zur Flugabwehr beorderten Kindersoldaten (vulgo: Flakhelfer) und die jüngsten unter den Wehrmachthelferinnen, auf der anderen Seite die damals noch sehr jungen unter den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager.

Auch deshalb ragte Feingold aus der Reihe der Zeitzeugen heraus, die bei den Gedenkfeiern in Buchenwald am 11. April 2015 das Wort erhoben. Denn der österreich-ungarische Jude, der nach Stationen in Auschwitz, Neuengamme und Dachau seit 1941 auf dem Ettersberg bei Weimar in Haft gehalten wurde, war bei seiner Befreiung durch die Amerikaner fast 32 Jahre alt; am 28. Mai diesen Jahres wird er als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg seinen 102. Geburtstag feiern.

Mit der Autorität und dem Erinnerungsvermögen des damals schon Erwachsenen kann heute also kaum noch jemand über das Kriegsende in Europa sprechen, und auch dieses demografische Faktum beeinflusst die Art und Weise, wie wir in diesem Jahr gedenken.

Die großen innenpolitischen Kontroversen über die Deutung und Bedeutung des 8. Mai 1945 sind mittlerweile Geschichte. Zum 25. Jahrestag des Kriegsendes 1970 hatte mit Gustav Heinemann überhaupt zum ersten Mal ein Bundespräsident direkt zu dem Datum gesprochen. Denn Theodor Heuss, sein Vorvorgänger, war noch nicht im Amt, als er anlässlich der Verabschiedung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 die bald auch von anderen aufgegriffene Formel fand, die Deutschen seien durch die Kapitulation „erlöst und vernichtet in einem“ gewesen.

Erst 1985 hatte dann Bundespräsident Richard von Weizsäcker einen dezidiert anderen Ton gesetzt. Indem er den 8. Mai zum „Tag der Befreiung“ erklärte, hob der ehemalige Wehrmachtsoffizier auf eine normative Ebene, was er 15 Jahre zuvor als einfacher Abgeordneter der CDU im Bundestag zu Protokoll gegeben hatte: „Keiner möge seine persönlichen Erlebnisse zum Maßstab für alle machen.“

Zehn Jahre und einen Mauerfall später schien diese Mahnung vergessen. Jedenfalls gingen dem mit beispiellosem internationalem Auftrieb begangenen 50. Jahrestag des Kriegsendes, in dessen Zentrum schließlich ein Staatsakt in Berlin mit Vertretern der Vier Mächte stand, wochenlange Deutungskämpfe voraus: Eine neurechte Szene und beträchtliche Teile des bürgerlich-konservativen Lagers rebellierten lautstark gegen die „einseitige“ Festlegung auf den Begriff der Befreiung. Helmut Kohl nutzte die Gelegenheit, seinem Intimfeind von Weizsäcker, dem unterdessen Roman Herzog als Bundespräsident gefolgt war, eine kaum verkappte Rüge nachzurufen: „Niemand hat das Recht, festzulegen, was die Menschen in ihrer Erinnerung zu denken haben.“

Die ebenso einfache wie grundlegende Wahrheit, dass es den Alliierten sechs Jahrzehnte zuvor tatsächlich nicht um die Befreiung der Deutschen gegangen war – und gehen musste –, sondern um die Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus, blieb auch 2005 unterthematisiert. Daran änderte auch nichts, dass mit Gerhard Schröder 2005 erstmals ein deutscher Bundeskanzler bei der Militärparade am 9. Mai in Moskau zugegen war. Helmut Kohl nämlich war 1995 zwar Jelzins Einladung gefolgt, aber nicht auf dem Roten Platz erschienen; ähnlich will es in diesem Jahr Kanzlerin Merkel halten, wenn sie am 10. Mai zusammen mit Putin zum Grabmal des unbekannten Soldaten geht.

Bereits im Frühjahr 1994, in einer ersten größeren demoskopischen Studie nach der deutschen Vereinigung, hatte sich mehr als die Hälfte der Befragten (53 Prozent) zu einem allgemeinen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit bekannt. Zwanzig Jahre später misst Forsa 42 Prozent Schlussstrich-Befürworter, während die Bertelsmann-Stiftung auf 58 Prozent kommt – und von 81 Prozent aller Deutschen sagt, sie wollten die Geschichte des Holocaust irgendwie „hinter sich lassen“. Man muss solche Umfrageergebnisse nicht ernster nehmen als die Worte, in denen darüber berichtet wird; oft genug bleibt unklar, was genau gemessen wurde. Trotzdem verfestigt sich der Eindruck, dass es inzwischen vielfach gerade Jugendliche und junge Erwachsene sind, die sich von der Geschichte der NS-Zeit belästigt fühlen; eher genervt als in scharfem Ton versuchen sie sich ihr zu entziehen. Die Vorstellung, dass es kollektive Zugehörigkeiten geben könnte – und damit transgenerationelle historische Verantwortung jenseits persönlicher Schuld –, scheint mehr und mehr aus dem Blickfeld zu geraten, ja für anachronistisch gehalten zu werden.

Natürlich gilt das nicht unterschiedslos über alle sozialen Gruppen und Schichten hinweg, und das Engagement vieler junger Leute in der breit ausdifferenzierten Gedenkstättenlandschaft dieser Republik ist bemerkenswert. Aber im Mittelpunkt steht auch dort oft eher die Geste des empathischen Erinnerns als die Bereitschaft zur Aneignung von historischem Wissen und zur Arbeit an einem aufgeklärten Geschichtsbewusstsein.

Für den Moment noch, das zeigten in diesem Frühjahr auch die Befreiungsfeierlichkeiten in den ehemaligen Konzentrationslagern, gelingt es den „jungen Überlebenden“, die Jungen zu berühren. Mit ihren verkörperten Erinnerungen erreichen diese letzten Zeugen – vielleicht gerade, weil sie so zart geworden sind – oftmals auch jene, die der „großen Geschichte“ nur noch wenig oder gar nichts mehr abzugewinnen vermögen. Doch das Ende solcher Begegnungen ist in Sicht.

Während unsere politische Klasse bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Notwendigkeit des „Erinnerns“ postuliert, wird überall im Land der Geschichtsunterricht zusammengestrichen. Darin zeigt sich einmal mehr die Krux einer Politik, die von historisch-politischer Reflexion nichts wissen will. Dabei vermag doch nur Letztere zu verantwortlicher Einsicht zu verhelfen: mit Blick auf den 8. Mai 1945 zum Beispiel zu der Erkenntnis, wie notwendig die Kapitulation der Wehrmacht und der alliierte Sieg über Hitlerdeutschland war.

Die Tatsache, dass das völkermörderische Regime in der Mitte Europas nicht an seinen Gegnern im Innern scheiterte, sondern erst durch die gemeinsame Anstrengung der liberalen Demokratien des Westens und einer – freilich stalinistischen – Sowjetunion bezwungen werden konnte, gilt es im historischen Gedächtnis zu bewahren. Für uns Deutsche bleibt das eine politische Aufgabe sui generis. Sich ihr vorbehaltlos zu stellen, kann in der gegenwärtigen politischen Lage aber auch Russland und dem Westen als Ganzes nicht schaden.