Rituale des Erinnerns und des Vergessens

THEATER Das Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne als Nachsinnen über den Zustand der Welt

Später wird auf der Bühne diskutiert, warum die Opfer der Anschläge des 11. September nicht als Opfer, sondern als Helden bezeichnet würden: weil man bei Opfern die Täter finden müsse

VON TOM MUSTROPH

Theater ist immer noch eine moralische Anstalt – jedenfalls dann, wenn sie sich eben „Schaubühne“ nennt, für die Friedrich Schiller einst so wohl- wie hohltönend forderte: „Eine Schaubühne ist eine moralische Anstalt und eine Schule praktischer Weisheit.“

Nachsinnen über den Zustand der Welt war denn auch die Hauptbeschäftigung beim diesjährigen Festival Internationaler Neuer Dramatik (F.I.N.D.) an der Schaubühne. Bewerkstelligt wurde das allerdings vornehmlich in der Form von Ritualen. Durchaus mit Gewinn.

Einen Blick auf die eigene Gesellschaft durch die Spiegelung in einer anderen warf in „Amazon Beaming“ der britische Theatererneuerer Simon McBurney. Er begann mit einem Nachdenken über die ganz wenigen Bilder, die von der Kindheit seines Vaters überliefert sind, die schon recht stattliche Anzahl von Abbildungen, die sein eigenes Aufwachsen dokumentieren, und die Abermillionen von Bytes, die sich allein in seinem Mobiltelefon zu Bildern seines Sohns fügen. Dies erzählend bricht ihm ein Videoband entzwei, auf dem er kostbare 8-mm-Aufnahmen gerettet hatte. Der Erinnerungsschatz scheint verloren. McBurney macht sein Publikum aber darauf aufmerksam, dass es nur ein Spiel sei.

Nach diesem didaktischen Ausstieg entführt er, mit den Füßen in dem aufgelösten Band raschelnd, akustisch ins Amazonasgebiet. Er ist auf den Spuren eines Fotografen, der mehrere Wochen bei einem isoliert lebenden Eingeborenenstamm verbrachte und seltsame Erfahrungen von wortloser Gedankenübertragung machte und der auch selbst Voodoo- und Gegenvoodoo-Praktiken ausübte.

Dank ausgefeilter Aufnahmetechnik und sichtlichem Spaß am alten Gewerbe des Geräuschemachers für Film und Hörspiel entwickelt McBurney einen faszinierenden Klangraum, in dem den unter Kopfhörer vereinzelten Zuschauern ein ganz individueller Kontakt mit einer fremden Zivilisation möglich erscheint. Das Gelingen freilich ist abhängig von guten Absichten, deren Kern der andere zu spüren in der Lage ist. Diese als work in progress gezeigte Arbeit kann zu einer famosen Studie über erste Menschen werden.

Eher den letzten Menschen wandte sich der israelische Choreograf Yonatan Levy zu. Levy spürt in „Saddam Hussein – A Mystery Play“ den Diktator in dessen Kellerversteck auf der Flucht vor den Amerikanern auf und integriert ihn in ein Ritual, das Größenwahn, Schuldanerkenntnis und derbe Schläue vereint. Saddam ist in Levys Mysterienspiel in ein Original und drei Spiegelbilder aufgeteilt, alle gewandet in Khakihemd und wallenden Derwischrock. Das effiminiert die soldatische Gestalt und fügt ihr spirituelle Aura zu. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die zeremoniellen Gesten, die Levy der Bewegungssprache des anthroposophisch gesinnten Tanzgurus Georges Gurdijeff entnahm.

Im Handlungsbogen macht es Levy sich freilich etwas einfach. Er befleckt Saddam und dessen Gegenspieler George W. Bush mit Öl und lässt sie das zu flüssigem schwarzen Gold komprimierte Exleben anbeten.

Politisch differenzierter wurde es wieder mit Richard Nelsons vierteiliger Serie „The Apple Family Plays“. Hier sitzt man bei den jährlichen Treffen der vier Apple-Geschwister, Barbara, Marian, Jane und Richard, im Städtchen Rhinebeck in Upstate New York, so etwas wie die Uckermark vom Big Apple, mit am Tisch. Nachdem über fehlende Ehepartner kurz hergezogen und auch das Thema des Vaters, der einst die Familie verlassen hat, vorsichtigst umkreist wurde, rückt bei sich leerenden und immer wieder neu sich füllenden Tellern der Zustand des demokratischen Amerikas ins Zentrum.

Präsident Obama wird da als Liebling der Wall Street kritisiert. Die Apples, selbst Obama-Wähler, glauben mittlerweile, dass sich liberal denkende Menschen vor allem deshalb für ihn entschieden, weil sie sich selbst ihre Modernität und Offenheit beweisen wollten. Später wird auf der Bühne diskutiert, warum die Opfer der Anschläge des 11. September nicht als Opfer, sondern als Helden bezeichnet würden: weil man bei Opfern die Täter finden müsse. Mit dem Beklagen von Heroen indes lassen sich Kriege begründen. Alle vier Folgen über dieses nachdenkliche Amerika kann man in einem Theatermarathon am Sonntag, Abschlusstag des diesjährigen F.I.N.D-Festivals, sehen.

Ein Clou übrigens ist, wie sich, verknüpft mit den politischen Debatten am Abendbrottisch, Benjamin, der Onkel der vier Geschwister, seinen zunehmenden Gedächtnisverlust zu einem Vorteil schönredet. Wer sich nicht mehr erinnere, sei frei von Sorgen und Konventionen und damit erst wirklich frei. Besser käme solch eine Krankheit sogar noch dem Schauspieler zugute, meint der Exmime. Nur wenn der vergäße, dass er geprobt habe, könne er überhaupt erst wahrhaft spielen, lautet sein Credo – und die zustimmenden Lacher in der Schaubühne als Tempel des theatralen Realismus sind ihm gewiss.

Vergessen, um neu anzufangen – ist das im Sinne von Schillers „praktischer Weisheit“?

■ 15. Festival Internationale Neue Dramatik noch bis 26. April in der Schaubühne am Lehniner Platz