Die Lichter der Metropole leuchten

CLUBKULTUR IN SEOUL Rasanter Wandel: In Südkoreas Hauptstadt boomen Underground und Musikszene

Was sich in Berlin über Jahrzehnte und mit viel Raum entwickelte, passiert in Seoul im Schnelldurchlauf

VON UH-YOUNG KIM

Stetig fließt der Menschenstrom aus der U-Bahnstation in die Straßen von Seoul. Neonreklamen und LED-Screens erhellen die Nacht in Hongdae. Im angesagten Ausgehviertel der südkoreanischen Hauptstadt brennt die Luft. Junge Koreaner in Hornbrillen, Miniröcken und bunten Sneakers treffen sich hier, um das Wochenende zu begießen – hungrig nach dem neusten Trend, die Handys stets im Anschlag.

Über das jüngste Scharmützel am 38. Breitengrad, das Seegefecht mit Nordkorea, macht sich hier niemand ernsthaft Sorgen. Die Meldung verpufft im nächtlichen Dauerfeuer aus Beats und Blitzlichtern. Nur 56 Kilometer entfernt von der letzten Grenze des kalten Kriegs feiert die südkoreanische Jugend, als ob es kein Gestern und kein Morgen gäbe.

Die Menge schiebt sich durch die engen Gassen. Seoul ist etwas kleiner als Hamburg, hat aber siebenmal so viele Bewohner. Die hohe Bevölkerungsdichte lässt kaum Rückzugsmöglichkeiten zu. Dafür herrscht ein ausgeprägter Sinn fürs Kollektive, der in der aufblühenden Clubszene den idealen Durchlauferhitzer gefunden hat.

Jae-Hyun Yu winkt aus dem Gedränge heraus. Er lächelt entspannt, obwohl gleich neben ihm ein paar überhitzte „Expats“ herumbrüllen. Die „Expatriates“, junge Auswanderer aus Nordamerika, arbeiten meist als Englischlehrer. Für sie ist Seoul eine einzige Partyzone. Sie bilden die sichtbarste Migrantengruppe im Stadtbild. Billiglohnarbeiter aus Südostasien dagegen werden in die Außenbezirke ausquartiert. Gemeinsam ist ihnen, dass sie als Ausländer noch ein relativ neues Phänomen auf der koreanischen Halbinsel sind, das im Zuge der Globalisierung aber unausweichlich geworden ist.

Für Yu sind die „Expats“ ein Segen, haben sie doch das Clubgeschäft ins Rollen gebracht. Yu ist Partymacher und Techno-Aktivist der ersten Stunde, eine Art koreanischer Dr. Motte, der davon träumt, die Loveparade nach Seoul zu holen und Kraftwerk zu seinem World DJ Festival einzuladen. Wir sind zu einer Tour durch die Superclubs und Undergroundläden von Seoul verabredet.

Die größte Stadt Südkoreas ist bisher nicht wirklich für nächtliche Exzesse in futuristischem „Blade Runner“-Ambiente bekannt. Tokio kommt einem in den Sinn. Aber Seoul? Unterm Radar des eurozentrischen Hipstertums hat sich hier dennoch in nur wenigen Jahren eine vielseitige Clublandschaft herausgebildet. Mittlerweile findet man alles, was das Dance-Music-Herz begehrt: die Techno-Afterhour, den Dubstep-Allnighter oder das Abstract-HipHop-Jam. Und wie bei jeder neuen Bewegung in Südkorea nimmt der Boom in der Clubkultur gerade rasant an Fahrt auf.

Vor 15 Jahren glich Seoul einer popkulturellen Wüste. Wer ausgehen wollte, musste in sogenannten Nite Clubs einen Tisch für viel Geld reservieren und bekam dafür wenig Spaß. Der Plattenunterhalter spielte Pophits und Stehblues. Über das Internet sind nun auch die DJs in Südkorea an den Puls der globalisierten Dance Music angeschlossen.

In einem Keller in Hongdae läuft ein Remix, den der kalifornische Produzent John Tejada für den Brasilianer Gui Boratto im Auftrag des Kölner Labels Kompakt gemacht hat. Doch bei der Parytreihe „We Love Techno“ ist heute nicht viel los. Der britische Star-DJ Dave Clarke spielt in Itaewon, dem alten amerikanisch geprägten Ausgehviertel, und alle sind zu ihm gepilgert. Dennoch lässt sich Lokalmatador DJ Sunshine den Spaß nicht nehmen und mixt den nächsten Track rein – auf Vinyl, wie es sich für den geforderten Connaisseur gehört.

„We Love Techno“ ist 2007 mit großem Erfolg angetreten, um dem kommerziellen Einerlei einen differenzierten Techno-Entwurf entgegenzusetzen. Schnell haben sich die DJs in den großen Clubs angepasst und wissen nun, was letzte Nacht in der Berliner Panoramabar lief. Das „Heaven“ ist so ein Superclub im noblen Süden von Seoul.

Oben lassen Models die Champagnerflaschen kreisen. Unten tanzen – immer dem DJ zugewandt – einheimische Nachtschwärmer, „Expats“ und Mitglieder aus der kleinen deutschen Community.

Vor der Party wurde die Dokumentation „We Call It Techno“ aus Deutschland gezeigt. Das Goethe-Institut Korea hat anlässlich des Mauerfall-Jubiläums zum Filmabend ins „Heaven“ eingeladen. In der Dokumentation wird der Durchbruch von Techno in Berlin in Beziehung zum Mauerfall gesetzt. Techno bildete demnach den Soundtrack der Wiedervereinigung. Jugendliche aus dem Osten und Westen feierten unmittelbar nach der Öffnung der Grenzen gemeinsam auf den Tanzflächen der Technopartys. Das Berlin von damals erscheint im geteilten Korea als utopischer Möglichkeitsraum, der Einheit und Freiheit verspricht.

1989 lag das Clubleben in Seoul noch im Tiefschlaf. Zwanzig Jahre später sind Superlative gerade mal gut genug. Wenn es nach Partymacher Yu ginge, wird Seoul in fünf bis zehn Jahren zum Mekka der DJs aufsteigen. Noch vor zwei Jahren wusste in Seoul niemand, wie man Minimal buchstabiert. Heute erklären die Techno-Producer von East Collective den europäischen Sound für tot und basteln schon am Nachfolgemodell. Was möglich ist, wird gemacht. Hauptsache neu – und zwar schnell.

Szenekenner Yu hofft nun, dass die Clubkultur eine ähnlich steile Karriere hinlegt wie die „Korean Wave“. Darunter versteht man den internationalen Erfolg der heimischen Popkultur seit den Neunzigern. Teenager in Hongkong feiern koreanische Popstars wie Rain. Regisseur Park Chan-Wook hat jüngst in Cannes abgesahnt. Hausfrauen von Ägypten bis Mexiko sind süchtig nach der melodramatischen TV-Serie „Winter Sonata“. Und in diesem Jahr hat die B-Boy-Crew Gamblerz aus Seoul die Breakdance-WM in Bielefeld gewonnen.

Yu ist Partymacher und Techno-Aktivist der ersten Stunde, eine Art koreanischer Dr. Motte

Im Gegensatz zur staatlich subventionierten „Korean Wave“ erfährt die Clubszene jedoch selten öffentliche Unterstützung – zu kleinteilig für nationale Institutionen, zu randständig für die allmächtigen Unterhaltungskonzerne. Nur wenige Musiker können von ihren Auftritten in der Zehnmillionenstadt leben. Und auch Drogen, eng mit den Impulsen aus der Dance Culture verbunden, sind ob drakonischer Strafen kaum im Umlauf.

Der koreanischdeutsche Kulturwissenschaftler Udo Lee ist vor fünf Jahren von Berlin nach Seoul gezogen. Lee meint, in Korea werde vieles schnell heiß gekocht und schnell wieder fallen gelassen. Trends, ohne Zeit zur Reflexion oder ein Bewusstsein für Diskurse. Räume, in denen sich Kreative ausprobieren können, seien rar gesät.

Lee sitzt in der Kunsthalle „Platoon“, einem aus Schiffscontainern zusammengesetzten Gebäude. Im April ist die ausgefeilte, modulare Stahlkonstruktion wie ein Raumschiff mitten im Nobelviertel Kangnam gelandet. Seitdem hat das „Platoon“ die Lücke der subkulturellen Bescheidwisser und Talentförderer aus dem Westen für sich erschlossen. Als multifunktionaler Ort aus Galerie, Atelier, Club und Bar mit angeschlossener Consulting Agentur ist es eigentlich ein typisches Berlin-Mitte-Produkt. Und dort wurde auch der erste Container eröffnet. Von Seoul aus soll nun ganz Asien erobert werden. Vermarktung und Kulturauftrag gehen Hand in Hand.

Was sich in Berlin über Jahrzehnte und mit viel Raum entwickelte, passiert in Seoul im Schnelldurchlauf. Die Eroberung von Freiräumen und kommerzielle Vereinnahmung erzeugen ein intensives Durcheinander. Im kulturellen Klima wirken zudem die Brüche in der koreanischen Geschichte nach – die Kriege und Besatzungen, die Militärdiktatur und die rapide Entwicklung des Kapitalismus im Tigerstaat.

Zeit und Raum sind hier immer schon knappe Ressourcen gewesen – unter hohem ökonomischen Druck. Dadurch erklärt sich auch die Obsession mit dem Neuen – und die irre Geschwindigkeit, mit der Trends prozessiert werden. Vieles mag dabei auf der Strecke bleiben. Doch man kann es auch so sehen: In Seoul ist quasi immer Wende. Eine Möglichkeitszone auf Dauer, in der alles permanent im Umbruch ist und sich fortwährend neue Fluchtlinien eröffnen.

Mit dem Taxi geht es zum Ausklang noch in ein Musikstudio. Der Stau nimmt ab, je weiter wir in die Außenbezirke kommen. Die Lichter der Metropole leuchten verheißungsvoll in der Ferne. Wir kommen vor einer unscheinbaren Einfahrt an, ein koreanischer Rastafari öffnet die Tür. Wummernde Bässe dringen nach oben.

Uh-Young Kim lebt in Köln. Auf Einladung des Goethe-Institut hielt er Anfang November in Seoul zwei Vorträge zu Techno und Mauerfall