Gegen die grelle Sichtbarkeit

CHRISTLICHE BILDÖKONOMIE Kunstwissenschaftler Thierry de Duve will die Bilder säkularisieren

VON JOHANNES THUMFART

In der „Philosophie im Boudoir“ Marquis de Sades findet sich ein Pamphlet mit dem etwas sperrigen Titel „Auf, ihr Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt!“. In der 1795 veröffentlichten Schrift warnt de Sade die französischen Revolutionäre vor dem Rückfall ins Christentum. Gelinge es nicht, sich endgültig vom Christentum zu lösen, werde der politische Fortschritt nur von kurzer Dauer sein, prophezeit de Sade. Wer dem Christentum folge, werde schon morgen „dem Kaiser geben, was des Kaisers ist“. Der Pessimist de Sade behielt recht. Napoleon wurde zwar durch die eigene Hand und nicht durch die des Klerus zum Kaiser gekrönt, aber die Allianz von Christentum und Krone hatte Europa nur wenig später erneut im Griff.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erlebten religiös-konservative Parteien eine weltweite Renaissance, die nach den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts unerwartet war. In diesem Zusammenhang ist ein neuer Essay Thierry de Duves interessant, der auf de Sades Warnschrift von 1795 anspielt: „Auf, ihr Menschen, noch eine Anstrengung, wenn ihr post-christlich sein wollt!“, lautet der sperrige Titel.

Gesellschaft des Spektakels

Das Anliegen des belgischen Kunstwissenschaftlers ähnelt dem de Sades; es geht um die Säkularisierung des Umgangs mit Bildern, welchem de Duve in der Nachfolge Debords größte politische Bedeutung beimisst.

In der Gegenwart habe „die Gesellschaft des Spektakels“ die „Funktion der Religion übernommen“, beklagt der Autor. Das „grelle Übermaß an Sichtbarkeit, das Zuviel des Visuellen“ kennzeichne die zeitgenössische Kultur. Insbesondere sei der allgegenwärtige „Pomp“ zutiefst reaktionär. Er verschleiere „die Tatsache, dass wir bereits aus dem Religiösen ausgetreten sind.“

Gerade indem das „Unsichtbare“ im Mediendunst verdeckt werde, könne die Religion als Form der „Vermittlung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem“ weiter bestehen. Das Religiöse lasse sich „nur äußerst schwer umgehen, wenn man aus dem Inneren der Gesellschaft des Spektakels heraus vom Tod künden“ wolle. De Duves Analyse trifft ins Schwarze: Es ist frappierend, mit welcher Selbstverständlichkeit der überreizte Mensch der Postmoderne zur Religion greift, sobald ihm der Tod zu nahe kommt.

Antireligiöses Christentum

So weit reiht sich de Duves Forderung nach Säkularisierung in eine religionskritische Welle ein, die so unterschiedliche Leute wie den Journalisten Christopher Hitchens („Der Herr ist kein Hirte“) und den Evolutionsbiologen Richard Dawkins („Der Gotteswahn“) umfasst. Der bemerkenswerte gedankliche Spagat von de Duves Ansatz besteht nun aber darin, seine Forderung nach Säkularisierung mit einer Wiederbelebung des Christentums zu verbinden.

Das Christentum, so de Duve, sei selbst antireligiös, eine „Religion des Austritts aus der Religion.“ Diese These stützt de Duve vor allem auf die noch zu übersetzende Arbeit Marcel Gauchets über die „Entzauberung der Welt“ („Le désenchantement du monde“). Aber auch Jean-Luc Nancy äußerte sich in seiner „Dekonstruktion des Christentums“ entsprechend: Das Christentum sei ein Atheismus, hieß es dort knapp.

Nancy und Gauchet konnten ihre Thesen durch Verweise auf die christliche Rationalisierung der antiken Kultreligionen und die Säkularisierung der politischen Gewalt durch das spätantike Christentum belegen. De Duve geht es dagegen um die dem Christentum inhärente Opposition gegen das Bild. Etwa sei niemand „Zeuge bei der Auferstehung Christi“ gewesen, bemerkt de Duve. In diesem Kontext erwähnt er auch das alttestamentarische Bildnisverbot, das sich wiederum in einer langen christlichen Tradition der Kritik an „Götzenbildern“ niederschlägt.

Von seiner puristischen theologischen Position ausgehend kritisiert de Duve die christliche Bildökonomie seit dem byzantinischen Bilderstreit des 9. Jahrhunderts. Diese sei, so de Duve, von der Idee „einer bildlichen Inkarnation“ geprägt, die „aus göttlichem Hauch und jungfräulichem Schoße geboren“ sei.

Jungfrauen und Mütter

Zu leiden hätten unter diesem seit dem tridentinischen Konzil und dem Barock dominant gewordenen Mythologem vor allem Frauen. Als „Jungfrauen und Mütter“ würden sie im Zusammenhang der Ikonografie des Spektakels „ihrer eigenen Fleischlichkeit beraubt, es sei denn, sie werden zu Huren.“

Diese Verbindung von Feminismus und Säkularisierung zur Grundlage nehmend, holt de Duve zum Schlag gegen sein historisches Vorbild de Sade aus. Die in politischen Ikonen wie der Marianne zum Ausdruck gebrachte Entrückung der Frau sei das Problem der Französischen Revolution gewesen, nicht das Christentum. Resultat dieser Bildpolitik sei ein patriarchalisch geprägter Egalitarismus, wie schon die Rede von der „Brüderlichkeit“ – und nicht etwa Schwesterlichkeit – der Citoyens zeige. Die Französische Revolution habe „ihren Universalismus teuer bezahlt, insbesondere mit einer beträchtlichen Verdrängung des Weiblichen“.

Dieser feministische Teil von de Duves These ist offenkundig etwas platt. Und gerade die klischeehafte Verortung der Rolle der Frau zwischen „Heiliger“ und „Hure“ ist mit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche obsolet geworden. Mit seinem Anliegen einer Säkularisierung des Bildes berührt de Duve dagegen einen wunden Punkt der Gegenwart. Aber gerade die Fetischisierung des Bildes im Rahmen der Kunstwelt und in PowerPoint hätte eine längere Analyse nötig, als sie dieses originelle Pamphlet zu bieten vermag.

Thierry de Duve: „Auf, ihr Menschen, noch eine Anstrengung, wenn ihr post-christlich sein wollt!“ Diaphanes, Berlin 2009, 64 S., 8 Euro