: Der sture Hirte
RETTUNG Kalevi Paadar lebte von seinen Rentieren. Und die lebten vom Urwald. Doch die Holzindustrie stellte alles infrage. Sie stritten Jahrzehnte, bis zu den Vereinten Nationen. Jetzt hat Paadar gewonnen
■ Die frohe Botschaft: Der Konflikt um den finnischen Wald dauerte fast vier Jahrzehnte. Doch 2009 gab es gleich mehrere Einigungen zwischen Rentierhirten und Holzfällern. Eine davon: Aus dem Urwald von Nellim bekommt die Holzindustrie in den nächsten 20 Jahren keinen Baum mehr.
■ Der finnische Urwald: Finnland ist das waldreichste EU-Land. Noch eine Millionen Hektar sind Urwald. Dort leben viele bedrohte Pflanzen- und Tierarten. Manche Bäume sind über 500 Jahre alt. Der Urwald ist Lebensgrundlage für viele Angehörige des Sami-Volks: Ihre Rentiere fressen Baumflechten. Die Urwälder des Nordens sind zudem riesige Kohlenstoffspeicher.
AUS NELLIM/LAPPLAND KIRSTEN KÜPPERS
Es ist jetzt so, dass Kalevi Paadar sich morgens im Dunklen auf seinen Snowscooter schwingen, den Motor anwerfen und losbrausen kann, hinein in die endlosen, verschneiten Wälder, immer den Spuren der Rentiere folgend. Ein kaltes und einsames Fahren durch die Finsternis. Denn so ist es nun mal hier oben im Norden Lapplands: dass sich um diese Zeit im Winter die Sonne nicht zeigt, am Morgen nicht und schon gar nicht für den Rest des Tages. Kalevi Paadar gleitet also durch die schwarzen Wälder, sucht seine Rentiere, treibt sie zusammen, der Schnee stiebt, die zitternden Scheinwerfer des Snowscooters weisen die Richtung. Ein Mann allein mit sich und seiner Aufgabe. Er fährt und fährt durch die Dunkelheit, nur das Brummen des Snowscooters fährt mit. Keine Planierraupe schneidet ihm den Weg ab, keine Holzfäller mit Kettensägen, keine kreischenden Maschinen reißen kahle Stellen in den Wald.
Kalevi Paadar auf seinem Schlitten, die Bäume und die Rentiere haben endlich Ruhe.
Er nennt diese Ruhe: „Friede auf Erden“. Das mag pathetisch klingen, aber da der Rentierhirte Kalevi Paadar sparsam mit Worten umgeht, sollte man diesen Ausdruck vor allem als Hinweis auf die vorangegangenen Verletzungen sehen.
Tatsache ist: Es gibt viele frohe Botschaften, die mit der neuen Ruhe zusammenkommen. Kalevi Paadar muss sich nicht mehr morgens in seinen Toyota setzen und durch den Schnee zum Gerichtsgebäude in die Provinzhauptstadt Ivalo schlittern. Manche Leute im Dorf gucken nicht mehr weg, wenn sie ihn auf der Straße sehen. Vielleicht würde er sogar im schmalen Supermarkt von Nellim wieder bedient. Aber er hat es nicht mehr probiert, seit es zu unschönen Szenen mit der Besitzerin des Ladens gekommen ist. Das war zu jener Zeit, als die Dinge durcheinander gerieten in der 200-Einwohner-Gemeinde. Zu der Zeit als der große Krach eskalierte.
Die wunderbare und global bedeutsame Nachricht aus Nellim im Norden Lapplands jedoch ist, dass der sechzig Jahre alt Rentierhirte Kalevi Paadar es geschafft hat, 16.000 Hektar finnischen Urwalds zu retten. Ein kleiner, schweigsamer Mann. Einer mit dunklen strubbeligen Haaren und scheuen Knopfaugen. Ein Sami, ein Angehöriger der Minderheit, die als ursprüngliche Bevölkerung Lapplands gilt. Ein introvertierter Kauz, der in einer verrümpelten, ehemaligen Gaststätte an der Dorfstraße wohnt, und seit er mit fünfzehn Jahren die Schule geschmissen hat, draußen mit den Rentieren unterwegs ist. So wie sein Vater, sein Großvater und die Generationen davor es waren. Ein Leben, das von den Tieren bestimmt ist. Ein Dasein, das keinen Platz lässt für Luxus. Wenn Paadar einen Gebrauchtwagen kauft, bezahlt er ihn mit zwei Plastiksäcken Rentierfleisch und einem Sack Fisch.
Die neue Ruhe in Nellim steht nun für das schöne Ende eines langen Streits zwischen zwei Männern. Ein Krach, der das Dorf tief gespalten hat. Ein Streit, der über Nellim hinauswuchs, bis die Sache irgendwann sogar die Sphäre internationaler Aufmerksamkeit erreichte. Ein Konflikt, über den die beiden Männer alt geworden sind.
Aber nun, vor ein paar Monaten, hat sich Kalevi Paadars Gegenspieler Pertti Heikkuri von der staatlichen Forstbehörde Metsähallitus in einen Kneipenraum mit einem schiefen Grinsen neben ihn gestellt und gesagt: „Wir müssen uns nie mehr über Wälder unterhalten.“ Und das ist nach all den Jahren eine unglaubliche Angelegenheit.
Jetzt sitzt Oberförster Pertti Heikkuri allein in der dunklen Ecke derselben Kneipe in Ivalo, rund fünfzig Kilometer südlich von Nellim. Aus dem Nebenraum jault eine Karaoke-Gesellschaft herüber, und der Lärm der anderen Gäste verstärkt den Eindruck von Verlassenheit, die den Mann in der Ecke umgibt. Tatsächlich sieht der 54 Jahre alte Heikkuri mit den wässerigen Augen, den strähnigen, grauen Haaren und dem Schnauzbart aus wie ein melancholischer Held aus einem skandinavischen Film. „Es ist nicht schön, einen solchen Konflikt ständig mit sich herumzutragen“, sagt er, als er seine Version erzählt. Das Schleppen in seiner Stimme verrät, dass er sich über seine problematische Rolle in der Auseinandersetzung bewusst ist.
Seinen Anfang nahm der Streit zwischen Oberförster Pertti Heikkuri und dem Rentierhirten Kalevi Paadar aus Nellim, als das staatliche finnische Forstamt Metsähallitus in den Siebzigerjahren begann, im großen Stil die Wälder Lapplands zu roden.
Holz schien in Finnland schier unbeschränkt vorhanden. Die Holzfäller von Metsähallitus machten sich über riesige Waldgebiete her, und auch wenn Förster Heikkuri diese Tatsache gern unerwähnt lässt, war es doch so, dass seine Holzfäller wüste, öde Landschaften hinterließen, wenn sie nach der Arbeit nach Hause fuhren.
Der Förster ließ immer mehr Bäume roden
Große Gebiete lappländischen Urwalds waren verloren. Auch für die Rentiere. Sie fressen die Bartflechten, die von den Ästen der Bäume hängen. In den langen Wintermonaten sind die Bartflechten fast die einzige Nahrung, die die Rentiere finden können. Mit simpler Aufforstung ist es daher nicht getan. Die klimatischen Bedingungen sind hart. Die Bäume brauchen Jahrzehnte, bis sie eine passable Größe erreicht haben. Und die Bartflechten wachsen nur an Bäumen, die mehrere hundert Jahre alt sind.
Der Rentierhirte Paadar aus Nellim beobachtete die vom Oberförster Heikkuri geschickten Holzfäller mit ihren zerstörerischen Maschinen und begriff, dass, wenn sie weitermachten, seine Rentiere nicht würden überleben können. Mit den Tieren würde seine eigene Lebensgrundlage schwinden, ebenso wie die der anderen Rentierhirten im Dorf. Die Sami sind keine gesprächigen Leute. Aber so wie die Dinge lagen, musste Paadar mit Heikkuri reden.
Die Verhandlungen, die er und alle anderen Rentierhirten mit dem Oberförster in den folgenden Jahren führten, liefen immer nach dem selben Muster ab: Die Männer beugten sich über Karten, die Heikkuri mitbrachte. Heikkuri malte mit einem bunten Stift Kreise um verschiedene Waldgebiete. Er fragte die Rentierhirten, welche Bereiche sie den Holzfällern überlassen wollten. Im Gegenzug wurden andere Zonen vorerst verschont. Wenn der Wald dann gerodet war, tauchte Heikkuri wieder mit seinen Karten auf und verlangte neue Gebiete. Dreißig Jahre lang kam er immer wieder. Man muss sich den Oberförster in dieser Zeit wohl wie ein Ungeheuer vorstellen, das nie genug bekommt.
Perttie Heikkuri sitzt in seiner Kneipenecke und beschreibt sein Vorgehen weniger drastisch: „Ich hatte eigentlich ein gutes Verhältnis zu Kalevi, es lief okay zwischen uns.“ Dabei dauerte das Ringen um den Wald nun schon länger als manche Ehe, Heikkuris vier Kinder waren mittlerweile erwachsen geworden. Um das Jahr 2001 bemerkte der Förster allerdings beim Rentierhirten eine Veränderung. Irgendein Hebel in Paadars Innerem schien umgelegt zu sein. Er ließ nicht mehr mit sich reden, wenn Heikkuri mit den Karten kam. „Ich weiß nicht, was es war, dass er das Ganze plötzlich so weit treiben musste. Er machte die Sache größer als sie eigentlich ist“, knurrt Heikkuri.
Paadar sitzt abwartend auf dem schrabbeligen Schaukelstuhl im Wohnzimmer seiner Junggesellenbude in Nellim, die Lampe hängt schief von der Decke, im Kamin stapeln sich leere Bierdosen, zwei Hunde schnarchen in einer Ecke. Paadar guckt zur Seite, in Schweigen versunken. Ein Schweigen, das so lange dauert, dass zeitweise unklar ist, ob er an diesem Abend überhaupt noch einmal daraus auftauchen wird. Irgendwann sagt er mit einer Stimme, die knarzt und knattert wie ein kaputter Außenbordmotor: „Wir mussten etwas tun. Sonst wäre alles verloren gewesen.“
Er hatte begriffen, dass Heikkuri und seinen Holzfäller niemals Ruhe geben würden. Sie würden immer wiederkommen und den ganzen Wald fällen, bis zum letzten Nadelbaum.
Paadar beschloss, zu anderen Maßnahmen zu greifen. Er beschloss, mit den Greenpeace-Leuten zusammenzuarbeiten.
Die Vegetarier von Greenpeace machten Wind
Die Greenpeace-Leute waren schon länger in der Gegend. Es waren junge, tatendurstige Menschen, die zu den samischen Rentierhirten liefen und sie nach den Wäldern fragten. Die Tatsache, dass in Lappland viele Sami gemäß der Tradition und mangels Alternativen immer noch von den Rentieren leben, machte sie zu den Hauptleidtragenden der Waldzerstörung. Im Frühjahr 2004 kam sogar ein Waldexperte von Greenpeace aus Hamburg angereist. Deutschland ist der wichtigste Abnehmer des Papiers, das aus dem finnischen Holz produziert wird.
Dem Rentierhierten gefielen die Greenpeace-Leute, auch wenn sie fast alle Vegetarier waren und sich zierten, wenn man ihnen ein paar Scheiben Rentierwurst anbot. Der Waldexperte aus Deutschland sagte, er wolle die Sache an die ganz große Glocke hängen. Er wollte internationales Aufsehen erregen. Der Waldexperte redete mehr, als es die Menschen in dieser Gegend gewohnt sind. Er sprach von einem Protestcamp, das sie nächstes Frühjahr im Wald aufbauen wollten. Paadar hatte die Ahnung, dass mit dem Waldexperten etwas in Bewegung geraten könnte. Vielleicht braucht man einen lauten Schwätzer, um in der Welt Gehör zu finden. Er lud die Greenpeace-Leute ein, das Camp in Nellim aufzubauen.
Der Waldexperte fuhr zurück nach Hamburg. Kurz darauf besuchte er mit zwei aus Lappland angereisten Sami-Rentierhirten den Verband deutscher Zeitschriftenverlage in Berlin. Die Rentierhirten erzählten den Verlegern von der Urwaldzerstörung. Hinterher gab es hektische Telefongespräche zwischen deutschen Verlagsmanagern und finnischen Papierfabrikanten. Der Waldexperte hatte begonnen, Wirbel zu machen.
Im März 2005 bezogen dann rund zwanzig Greenpeace-Aktivisten aus Brasilien, Italien, Deutschland, Schweden und Neuseeland zwei Wohncontainer im Wald bei Nellim. Die Aktivisten liefen mit Paadar durch den verschneiten Wald und hängten Schilder auf. Darauf stand: „Achtung! Wichtiger Wald für die Rentierwirtschaft!“
Man kann sich vorstellen, dass nicht alle im Dorf begeistert waren von den Entwicklungen. Nicht alle in Nellim leben von den Rentieren, es gibt drei Metsähallitus-Holzfäller im Ort, und einer von ihnen ist Kalevi Paadars Bruder. Der Konflikt begann einen Keil durchs Dorf zu treiben. In einer stillen Region wird es nicht gern gesehen, wenn ein einfacher Hirte den Mund aufmacht. Die Menschen scheuen Konflikte. Sie sperren die Häuser und Autos nicht ab. Andererseits besitzt fast jeder eine Jagdwaffe. Es gibt viele, die schon mittags gegen die Dunkelheit antrinken. Oberförster Heikkuri erklärt: „Die Leute wollten sich nicht von irgendwelchen jungen Hippie-Typen aus der Stadt sagen lassen, wie sie zu leben haben.“
DER FÖRSTER PERTTI HEIKKURI
Kurzum: Die Holzfällergewerkschaft rief zum Boykott von Rentierfleisch auf. Unterschriften gegen Kalevi Paadar und das Camp wurden gesammelt. Alte Männer, die jahrelang nur schweigend in der Ecke gesessen waren, sprangen auf Dorfversammlungen auf und brüllten Kalevi Paadar an. Die Besitzerin des Dorfsupermarkts weigerte sich, die Greenpeace-Aktivisten zu bedienen. Wenige Meter neben dem Greenpeace-Camp bauten Holzfäller ein Zelt auf und nannten es „Anti-Terror-Camp“. Die Dinge gerieten außer Kontrolle. Tagsüber lagen die Holzfäller im Zelt und betranken sich, nachts wummerten sie besoffen mit den Fäusten gegen die Türen der Greenpeace-Container. Sie ließen ihre Kettensägen aufheulen und brausten mit ihren Snowscootern durch die Nacht wie wild gewordene Teenager. Sie rissen die Greenpeace-Schilder ab, hängten Galgen im Wald auf und verbrannten Holzkreuze. Sie schmierten Hühnermist gegen die Scheiben der Greenpeace-Container. Ein Greenpeace-Mann erhielt per Telefon eine Morddrohung.
Die Aktivisten blieben. Sie luden den Geschäftsführer von Stora Enso ein, der größten finnischen Papierfabrik. Tatsächlich kam der Geschäftsführer aus Helsinki, stapfte mit den Aktivisten und Paadar durch den Wald, schaute sich die Bartflechten an den Ästen an und dann die abgesägten Stämme am Straßenrand. Er dachte an die Telefonate mit den deutschen Verlagsmanagern. Nach seiner Rückkehr nach Helsinki schickte er eine Presseerklärung heraus, in der stand, dass Stora Enso bis auf Weiteres kein Holz mehr aus dem umstrittenen Gebiet verarbeiten werde. Da stoppte Metsähallitus das Baumfällen.
Die Sägen kamen wieder, der Hirte ging aufs Ganze
Die Greenpeace-Aktivisten bauten ihr Camp ab und reisten weiter. Kalevi Paadar blieb zurück, ging fischen, guckte nach seinen Rentieren. Lauerte. Er traute dem Frieden und Oberförster Heikkuri nicht.
Tatsächlich fing Metsähallitus wenige Monate später wieder damit an, rund um Nellim Bäume zu fällen.
Vielleicht hatte Paadar nichts mehr zu verlieren. Vielleicht hatten sich die Maschinen von Metsähallitus so weit in sein Leben gesägt, dass er nicht mehr zurückkonnte. Er sitzt in seinem Schaukelstuhl, er mag es nicht erklären, guckt auf den Boden. Damals jedenfalls entschied er, aufs Ganze zu gehen.
Er reichte gegen das Forstamt Metsähallitus und die finnische Regierung eine Klage beim Amtsgericht in Ivalo ein. In der Klage stand, dass die Abholzung die Rentierhaltung beeinträchtige und so die Kultur der Sami bedrohe. Paadar schickte die Klage gleichzeitig zum UN-Menschenrechtsrat nach Genf. Seine neuen Greenpeace-Freunde hatten ihn auf diese Idee gebracht. „Einfach sehr nette Leute“, ist alles, was er heute dazu sagt, er schaukelt provozierend in seinem Schaukelstuhl.
Die Klage war ein Coup. Denn sie beinhaltete einen großen Vorwurf. Einen Vorwurf, der den Rentierhirten Paadar aus seinem gelben Holzhaus an der Nellimer Dorfstraße heraushievte und in einen größeren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang stellte. Er war auf einmal nicht nur ein einfacher Rentierhirte, sondern Anghöriger einer bedrohten Minderheit.
Als Oberförster Heikkuri von der Klage erfuhr, konnte er es nicht fassen. Auch jetzt in der Kneipe in Ivalo ist er nicht darüber hinweg. Er rutscht auf seinem Stuhl herum und schwitzt. „Die Vorstellung, dass unsere Baumfällarbeiten die samische Kultur bedrohen, ist lächerlich!“, ruft er. „Ich bin selber Sami! Viele meiner Holzfäller sind Sami! Kalevis eigener Bruder ist Holzfäller! Dieser Vorwurf ist ein Totschlagargument!“ Heikkuri guckt wütend gegen die Wand.
In der Forstbehörde klingelte das Telefon ununterbrochen. Die Kunden der Holzverarbeitungsbetrieben riefen an, Heikkuris Chefs aus Helsinki polterten am Telefon, Politiker stellten Fragen, Fernsehteams wollten in den Wald fahren. Es hörte nicht auf.
Nellim war zerrissen. Den Rentierhirten flog neue Hoffnung zu. Unterdessen schrieben die Anhänger der Anti-Kalevi-Paadar-Bewegung einen Brief an den UN-Menschenrechtsrat. Sie schrieben, der Mann sei ein „von Greenpeace manipuliertes Meerschweinchen“.
Kurz darauf schickte der UN-Menschenrechtsrat eine E-Mail an den finnischen Außenminister. Der Rat empfahl der finnischen Regierung, den Holzeinschlag zu unterbrechen, bis der Fall geklärt sei. Eine Niederlage für Oberförster Heikkuri. Die Forstbehörde kündigte an, die Arbeit in der Gegend um Nellim ruhen zu lassen.
Wenig später protestierten Greenpeace-Aktivisten mit Schlauchbooten im Hafen von Lübeck gegen die Urwaldzerstörung in Finnland. Die Aktivisten blockierten einen Frachter, der Papier aus Finnland nach Deutschland liefert.
Paadar bekam inzwischen E-Mails und Anrufe aus der ganzen Welt. Er war jetzt so etwas wie ein Held, ein Symbol für den Widerstand gegen die Globalisierung. Die Sami-Vereinigung in Finnland kürte ihn zum „Sami des Jahres 2006“. In Nellim wechselten indes viele die Straßenseite, wenn sie ihn sahen. Paadar brummt: „Die Leute von anderswo waren freundlicher als die Leute im Dorf.“
Dann begann der Prozess am Amtsgericht Ivalo. Die Verhandlung dauerte. Heikkuris Gutachter behaupteten, die Rentiere fräßen überhaupt keine Bartflechten. Sie höhnten, die Rentiere könnten ja nicht auf Bäume klettern, um die Flechten zu erreichen. Richter und Anwälte fuhren in den Wald, um den Zustand der Bäume zu inspizieren. Die Aktenordner auf Heikkuris Schreibtisch stapelten sich, die Kollegen in der Forstbehörde spotteten, ob er angesichts der Gerichtstermine je wieder zur Arbeit erscheinen werde. Und mit jedem Verhandlungstag sah der Rentierhirte Kalevi Paadar die Anwaltskosten weiter wachsen. Wenn er den Prozess verlieren würde, das wusste er, würde es ihn Kopf und Kragen kosten. Er war nervös.
Im August 2008 gab der Richter in Ivalo der Forstbehörde Metsähallitus Recht. Viele fühlten sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Sami keine Chance haben vor einem finnischen Gericht. Paadar ging trotzdem in Berufung.
Ob er bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen würde, fragte ihn damals ein Journalist. Er antwortete in der gewohnt knappen Art: „Ja.“
Der Streit zwischen den beiden Männern dauerte nun schon fast vierzig Jahre.
Oberförster Heikkuri merkte, dass der innere Hebel bei Kalevi Paadar eingerastet war, er würde diesen Hebel nicht mehr umlegen können. Die Papierfabrik Stora Enso hatte endgültig entschieden, kein Holz mehr aus der Region zu kaufen, auch sonst war der Imageschaden beträchtlich. Den Holzeinschlag gegen all diese Widerstände durchzusetzen, versprach keinen finanziellen Gewinn mehr. Heikkuri spürte neuerdings ein böses Stechen in der Herzgegend, er merkte, dass die Sache zu viele Nerven kostete, er merkte, dass dabei alle immer verloren. Er telefonierte mit seinen Chefs in Helsinki. Im Februar 2009 lud er Paadar in die Kneipe nach Ivalo ein.
Es folgten mehrere solcher Kneipentreffen. Heikkuri packte seine Karten aus, dieses Mal zeichnete Paadar Kreise um verschiedene Waldgebiete, Heikkuri schüttelte den Kopf, packte die Karten wieder ein, fuhr ins Büro, telefonierte mit Helsinki, lud Paadar wieder ein, der malte neue Kreise auf Karten und so fort. Das Kratzen von Filzstiften auf Papier, das Klingeln von Telefonen. Das waren die Geräusche, die verrieten, dass etwas in Bewegung kam.
Ein Fest am Inari-See, eins im Schaukelstuhl
Im August endeten die Kneipentreffen. Mit zwei Seiten Papier, die den Konflikt beilegen.
Auf den zwei Seiten stand, dass Metsähallitus in den nächsten zwanzig Jahren auf den Holzeinschlag in dem umstrittenen 16.000 Hektar großen Urwaldgebiet verzichten wird. Davon, dass der Holzeinschlag nach dieser Zeit wiederaufgenommen wird, geht keine der Parteien aus.
Wie die beiden Männer den neuen Frieden gefeiert haben?
Oberförster Heikkuri ist in seine Holzhütte am Inari-See gefahren und hat versucht, vom Stress runterzukommen. Jetzt sitzt er in der Kneipe in Ivalo, lehnt sich zurück, lächelt unstet, und das zeigt schon, dass die ganze Sache bei ihm nachwirkt.
Kalevi Paadar in seinem Wohnzimmer guckt auf die dicken Wollsocken an seinen Füßen. Als alles vorbei war? „Ein wenig Cognac getrunken“, murrt er aus seinem Schaukelstuhl heraus. Mehr nicht. Die Begeisterung scheint in den Wäldern hinter der Nellimer Dorfstraße stecken geblieben. Vor kurzem hat Paadar seinen Geburtstag gefeiert. Sogar sein Bruder, der Holzfäller, ist diesmal gekommen. Man kann also davon ausgehen, dass die Dinge für Paadar auch in privater Hinsicht wieder leichter werden.
Von ihm selbst ist darüber im Moment wenig zu erfahren. Er sitzt in seinem Stuhl, die Hunde schnarchen. Es wird nichts mehr passieren. Paadar ist allein und starrt in die Dunkelheit vor dem Fenster. „Friede auf Erden“, hat er vorhin gesagt.
■ Kirsten Küppers, 37, ist sonntaz-Autorin. In Finnlands Urwäldern soll es auch Bären und Wölfe geben. Die hat sie aber nicht gesehen