EIN FORSCHUNGSPREIS IST NACH EINEM NS-PÄDAGOGEN BENANNT
: Das falsche Vorbild

Gott und die Welt

MICHA BRUMLIK

In Lewis Carrolls genialem, surrealistischem Roman „Alice im Wunderland“ wünschen Hutmacher und Märzhase Alice „Herzlichen Glückwunsch zum Nichtgeburtstag“. Dieser Wunsch ist – leicht variiert – bald einer Erziehungswissenschaftlerin oder einem Erziehungswissenschaftler zu erteilen.

Wer bei Preisverleihungen wen ehrt, war schon immer fraglich: Werden wirklich die Empfänger des Preises ausgezeichnet oder versucht nicht vielmehr eine preisverleihende Institution auf sich aufmerksam zu machen? Etwa der Vorstand der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“, DGfE, der anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens dieses wissenschaftlichen Fachverbands heuer zum ersten Mal einen undotierten „Heinrich Roth Forschungspreis“ verleihen will. Wer? Heinrich Roth?

Der Mann ist in der Zunft als Urheber der sogenannten realistischen Wendung bekannt, als ein in die Erziehungswissenschaft gewechselter Psychologe, der der Pädagogik als Professor in Göttingen eine Abkehr von historischen Textinterpretationen zugunsten dessen, was er für empirische Forschung hielt, verschrieb. Roth, 1906 geboren, wurde 1933 in Tübingen von dem völkischen Psychologen Oswald Kroh, einem gläubigen NSDAP-Mitglied, sowie von Theodor Haering, einem rassistischen Geschichtsphilosophen, mit einer Arbeit „Zur Psychologie der Jugendgruppe“ promoviert. 1934 – Roth war mit achtundzwanzig Jahren kein Jugendlicher mehr – trat er in Hitlers Wehrmacht, in den Dienst der Psychologischen Prüfstelle des Reichswehr-Generalkommandos VII ein. In seiner im selben Jahr erschienenen Schrift „Soldatentum und Natur“ plädierte er für eine rassenbewusste Politik: „Durch ihre Bezogenheit auf die Idee des Reiches setzt sie von Anfang an auf Autorität, die im Blute liegt, die für sie wie für das ganze Volk den Sinn des gemeinsamen Lebens ausmacht, aber nicht theoretisch gelehrt und verstanden, sondern dem sie verkörpernden Führer dargelebt werden muss, mithin echte Autorität ist, die letzte Bindung verlangt, die wiederum im persönlichen Dienst innerhalb der betreffenden kleinsten Einheit des Bundes getätigt werden muss.“

Als Heerespsychologe war Roth während des Krieges mit dem Verhör französischer und sowjetischer Kriegsgefangener befasst, ansonsten nach Auskunft des Göttinger Stadtarchivars Böhme seit 1941 Mitglied der NSDAP. 1947, nach kurzer Gefangenschaft als „Mitläufer“ entnazifiziert, begann er eine bundesdeutsche Nachkriegskarriere. Zu seiner Entlastung wurde im Entnazifizierungsverfahren eine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus behauptet, die freilich von jemandem, der es wissen musste, widerlegt wurde. 1955 schrieb ihm sein ehemaliger Vorgesetzter, Max Simoneit, verbittert: „Was das Entlastungszeugnis betrifft, teile ich Ihnen mit, dass ich 108 Zeugnisse nach 1945 geschrieben habe, von denen nur 2 bewusst flau gehalten werden mussten – das war das Zeugnis über Sie und über … Sie wissen beide, dass es nicht anders sein konnte!“ Tatsächlich hatte Simoneit, selbst Mitglied der NSDAP, Roth kurz vor Kriegsende, am 17. März 1945 geschrieben: „… haben Sie vergessen, dass Sie in jener Sitzung eine Rebellion gegen mich versuchten, weil ich Ihrem Urteil gemäß nicht genügend nationalsozialistisch gewesen sei?“

1962, 17 Jahre später, hielt Roth, nun Professor in Göttingen, seine später berühmt gewordene Vorlesung über eine „realistische Wendung in der Pädagogik“. Gleichwohl: Sogar wenn man in Rechnung stellt, dass er seit 1952 einen komplexeren Begabungsbegriff vertrat und später für schulische Chancengleichheit eintrat – was ihm 1970 den Kulturpreis des DGB einbrachte –, hatte er doch nicht viel gelernt. Noch 1955 schrieb er in seinem Buch „Kind und Geschichte“: „Aus dem eigenen Kampf um den Platz an der Sonne im Berufsleben wächst Verständnis für die Realitäten im Kampf der Völker um Lebensraum.“

Auf jeden Fall bleibt, dass der erwachsene Heinrich Roth als Hilfswilliger in einer der brutalsten Mordmaschinen des zwanzigsten Jahrhunderts diente. Sollten Preise nicht nach Vorbildern benannt werden? Können NS belastete Namensgeber ein Vorbild sein? So bleibt nur noch, dem/der – meines Wissens noch unbekannten – PreisträgerIn des „Heinrich Roth Forschungspreises“ einen ernsten „Nichtglückwunsch“ auszusprechen.

■ Micha Brumlik ist Publizist und Erziehungswissenschaftler. Er lebt in Berlin