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Archiv-Artikel

DIE GROSSE FRAGE Warum essen wir Bio?

Es gibt Menschen, die einen Bioreflex entwickelt haben. Die stehen vorm Kühlregal im Supermarkt, die konventionelle Milch steht geschichtet neben dem Ökopendant, und einfach so, ohne weiter nachzudenken, warum, wandert das Bioprodukt in den Wagen.

Es ist eine intuitive Handlung, ein Reflex, keine bewusste Entscheidung mehr. Was genau in diesem Moment in den Synapsen von Menschen passiert, wenn sie vor den alltäglichen, existenziellen Fragen nach dem richtigen Ei, Apfel oder Joghurt stehen, darüber ist viel geforscht worden. Jeder Werbespot setzt genau da an.

Eine soziologische Erklärung für den Bioreflex liefert jetzt Florian Lottermoser vom Institut für Soziologie der Universität Hamburg. In seinem Buch „Der reflexive Konsument“ zieht er die ganz großen, epochalen Linien und beruft sich auf eine Eminenz seiner Zunft: Ulrich Beck, der 1986 die Risikogesellschaft in seinem gleichnamigen Buch analysierte. Darin beschreibt er eine Gesellschaft, die sich den langfristigen ökologisch-sozialen Folgen ihres Lebensstils bewusst wird – und den modernen, bis zur Vereinsamung individualisierten Menschen ziemlich schaudernd zurücklässt. Lottermoser sieht im Bioapfel einen Ausweg aus diesem Zustand. Der Mensch will die Kontrolle zurück. Wer fair oder bio kauft, der macht irgendwie was für die Gesellschaft, für das Allgemeinwohl, das gibt Sicherheit und ein Gefühl von Identität. „Für den Umweltnutzen gilt dasselbe wie für die Katastrophe: Er ist hypothetisch, objektiv kaum berechenbar und wird auf Basis von Uneindeutigkeit und Ungewissheit eingeschätzt“, schreibt Lottermoser. Es gibt also vielleicht irgendwann mal in der Zukunft einen Nutzen, wenn alle bio kaufen, genauso wie es irgendwann einen Schaden geben könnte, wenn es keiner macht.

Lottermoser hat all diese Gedanken natürlich nicht erfunden, die Phänomene sind oft in verschiedenen Ausprägungen diskutiert worden, als ethischer, politischer oder nachhaltiger Konsum. Wie in all diesen Analysen ist auch bei Lottermoser die Frage, wie eine Gesellschaft ihre Wertvorstellungen ändert, ein ziemlich dynamischer Prozess, in dem sich die inneren Wertvorstellungen einzelner und die der Gesellschaft ständig gegenseitig beeinflussen und ändern. Es gibt aber eine große Konstante bei allen: die, dass der Mensch längst kein Homo oeconomicus mehr ist. Oder es nie war. Also kein Wesen, das unter rein rationalen Kosten-Nutzen-Abwägungen wie eine Maschine durchs Leben stakst – so die Vorstellung nicht weniger Ökonomen.

Was den reflexiven Konsum so griffig macht, ist, dass er fast zwingend aus den Bedrohungen durch die Moderne folgt. Also ob der Mensch nun doch eine Art kollektive Vernunft entwickelt, weil er sich bedroht fühlt? Allerdings könnte der Effekt auch begrenzt sein, das wusste schon Ulrich Beck. Er schrieb schon vor Jahren: „Wo sich alles in Gefährdungen verwandelt, ist irgendwie auch nichts mehr gefährlich.“ INGO ARZT