Knister, knister, knister

SCHALLPLATTE Paradox: Vinyl gilt als Nischenprodukt. Dabei boomt das Geschäft, die Absatzzahlen steigen. Das lockt die großen Labels, wieder Schallplatten zu veröffentlichen. Doch kleine Labels und Läden sicherten das Überleben des alten Tonträgers. Ein Rundgang durch die Berliner Szene

■ Dass wenigstens aus musikalischer Perspektive die Welt eine – fröhlich weiterrotierende – Scheibe ist, verdankt man Emil Berliner (geboren 1851 in Hannover, gestorben 1929 in Washington, D.C.): Er hat sie erfunden, die Schallplatte. Und das zum Abspielen notwendige Grammophon gleich dazu. 1887 meldete er ein Patent auf einen scheibenförmigen Tonträger an, die Schallplatte, die sich gegen den zeitgleich patentierten Phonographen von Thomas Alva Edison durchsetzte. Der funktionierte mit einer extrem unpraktischen Walze. Zuerst wurden die Schallplatten aus Hartgummi gepresst, ab 1895 wurde Schellack als Grundstoff in der Plattenindustrie eingesetzt. Anfang der 50er begann dann der Siegeszug der Vinylschallplatte.

TEXT JENS UTHOFF
UND THOMAS MAUCH
FOTOS AMÉLIE LOSIER

Akazienkiez in Schöneberg, ein Samstagnachmittag. Malte Brants läuft gerade kreuz und quer durch den Laden und sortiert Schallplatten ein. Eine ins Krautrockfach, eine in die Soulecke, eine unter Popneuheiten. Brants hat gut zu tun. Seit zwei Jahren gibt es nun Dodo Beach, einen geräumigen Plattenladen auf zwei Ebenen. Der Mann mit den langen braunen Haaren, der die Neuware in den Regalen verstaut, ist davon überzeugt, dass er sich hier dauerhaft halten kann. „Es musste sich erst herumsprechen, dass es uns gibt“, sagt Brants, „aber mittlerweile kommen die Leute gezielt nach Schöneberg, um unseren Shop zu besuchen. Auch internationales Publikum. Natürlich bedienen wir eine Nische – aber es sind sehr treue Kunden.“

Nischenpublikum

An diesem frühlingshaften Samstag sieht dieses Nischenpublikum so aus: Im Metal Dungeon, der Abteilung für die härteren Spielarten des Rock im Untergeschoss, hat ein junger Mann dröhnende Klänge mit dem zugehörigen Gegrunze aufgelegt – zum Testhören für alle. Der Boden vibriert, der Typ sitzt ruhig auf einem Barhocker vor dem Plattenspieler. Durch die anderen Abteilungen streunen überwiegend Männer. Viele mit naturgrauen Haaren. Die Statistiken, die sagen, dass 80 Prozent der Plattenladenbesucher männlich und 20 Prozent weiblich sind, spiegeln sich hier ganz gut wider.

Dodo Beach ist ein Laden, der fast ausschließlich Vinyl anbietet – das Gros des Sortiments ist Neuware. Der Laden ist ein gutes Beispiel für das neue Interesse an der Schallplatte. Über den Vinylhype ist bereits viel geschrieben worden – aber Fakt ist nun mal, dass Schallplatten sich ihren Anteil am Markt zurückerkämpfen. Neben dem Streaming war Vinyl in den vergangenen Jahren das einzig stetig wachsende Segment des Musikmarkts.

In Berlin zeigt sich dieser Trend in besonderem Maße. Neben dem Schöneberger Exempel eröffneten zuletzt vor allem im Kreuzberger Bergmannkiez und im Neuköllner Reuterkiez Schallplattenläden en masse. In den Blogs streiten sich die Vinylliebhaber, welches das bessere Viertel zum Digging, zum Ausgraben von Schallplatten, ist.

Brants freut die Entwicklung selbstverständlich – den Aktionstag bewertet er zwiespältig: „Der Record Store Day bringt dem Medium Vinyl und uns Läden natürlich Aufmerksamkeit und ist eine gute Sache“, sagt er, „aber einiges geht auch an der ursprünglichen Idee vorbei.“

Damit meint er den Umgang mit den Extrareleases an dem Tag: Labels veröffentlichen extrem limitierte Schallplatten, die Shops wissen überhaupt nicht, ob und wie viele sie in der Woche vor dem Aktionstag erhalten – viele Kunden und Plattensammler gehen leer aus, während hartgesottene Händler manche Releases schon vorher bei Ebay höchstbietend verhökern.

Helene Fischer auf Platte

Dass Vinyl überlebt hat, ist auch dem Siegeszug von Techno und House in den 90er Jahren zu verdanken

Wobei man nicht mal sagen kann, dass die Rückbesinnung auf das in 33 und 45 Umdrehungen auf dem Teller kreisende Stück Plastik nur im Indiebereich und Underground stattfindet. „Jetzt werden ja auch Helene Fischer und Céline Dion wieder auf Vinyl veröffentlicht – und die Labels sind überrascht, wie viele sie davon verkaufen“, sagt Brants. Während die Majorlabels Warner, Universal und Sony eine Zeit lang fast keine Vinylausgaben veröffentlichten, gibt es sie nun sogar im Programm. Flächendeckend. Und die großen Elektromärkte – wo immer noch die meisten Tonträger verkauft werden – haben längst wieder Schallplattenabteilungen eingeführt. Parallel wächst der Absatz an Plattenspielern wieder, eine Traditionsfirma wie Onkyo hat sogar jüngst ein neues Gerät entwickelt und auf den Markt gebracht.

Neue Plattenspieler, alte Platten. Berlin ist ein Secondhandparadies. Und in den Secondhandladen kommen alle. Wie in eine Kneipe. Alte und Junge, Zeittotschläger, verschrobene Nerds. Gelegenheitskäufer. Manchmal sogar eine Frau. Und viele Touristen. Die zählen im Secondhandhandel fest zur Kalkulation. „Wenn die nicht kämen“, sagt Hans-Joachim Koppitsch von Heiße Scheiben in der Ohlauer Straße, „wäre es happig.“ Deshalb hat er auch gar nichts gegen Konkurrenz in nächster Nähe. Im Gegenteil, so eine Angebotsdichte ist ein schlagkräftiges Argument, das erst die Leute zieht.

Die Russen kommen – nicht

Wer im Moment nicht mehr kommt, sind die Russen. Der Secondhandhandel ist auch ein Spiegel politischer Umbrüche und Verwerfungen. Etwa des Zerfalls des ehemaligen Ostblocks – schallplattentechnisch reicht er bis in die Gegenwart hinein: Weil in den meisten Ostblockstaaten Schallplatten Mangelware waren und Westplatten sowieso nicht im Angebot, gab und gibt es in dieser Hinsicht einen großen Nachholbedarf – mit Berlin, ortsnah und mit riesigem Angebot, als Drehscheibe. Händler aus dem Osten decken sich hier mit Ware ein und verkaufen sie in ihren Heimatländern. In Russland aber scheint sich das Geschäft nicht mehr zu lohnen – die Krise, die Sanktionen. Seit etwa einem Jahr, sagen Plattenhändler, kommen die Russen nicht mehr.

Dabei muss das Schallplattensammeln kein Luxus sein. Man braucht nur einen einigermaßen stoßfesten Geschmack und die Geduld, sich durch die vielen Grabbelkisten zu wühlen, in denen das musikalische Lumpenproletariat eingezwängt ist. Mit nur einem Euro ist man hier dabei.

Diese Kisten finden sich in Berlin massenhaft. Auf den Flohmärkten, beim Trödler. Bei den Secondhandgeschäften stehen sie meist gleich vor der Tür. Ein Lockmittel, Service für Schnäppchenjäger, manchmal die letzte Rettung. Gerd Nöth von Comeback Records in der Hasenheide kennt Kunden, die bei ihm täglich in die Billigkiste schauen. Und dann gibt es eben die, sagt Koppitsch von Heiße Scheiben, die am Monatsanfang noch bei den teuren Platten im Laden zuschlagen, und „am Ende des Monats kaufen sie die 1,50-Platten“.

Schallplatten sammeln kann aber auch richtig teuer kommen. Auf den einschlägigen Handelsplattformen im Internet kann für manche Sammlerstücke der Preis durchaus im dreistelligen Bereich liegen. Das Internet als Handelsplatz nutzen auch Berliner Secondhandläden. Etwa zehn Prozent seines Umsatzes, sagt Koppitsch, laufe bei ihm übers Netz. Meist die teureren Angebote. Außerdem quengelt dann auch keiner, warum die jetzt „so teuer“ ist, wenn eine Platte mal für 80 Euro im Laden steht.

■ Es gibt gar nicht so wenige Menschen, die partout behaupten, dass die Musik von einer Schallplatte einfach besser klinge als etwa von der CD. Manche meinen damit nicht die Vinylplatte, sondern – wirklich old school – die Schellackplatte. Was nun ein wirklich abgeschlossenes Kapitel der Tonträgerindustrie ist. Und damit durchaus auch für Sammler interessant. Die letzten Schellackplatten sollen 1972 in Südafrika gepresst worden sein, wer lange genug sucht, findet sogar Beatles-Platten auf Schellack. Neues Material aber kommt hier garantiert nicht auf den Markt.

■ Zum Abspielen von Schellackplatten braucht man nicht unbedingt ein Originalgrammofon. Es reichen auch alte Plattenspieler, die noch für die 78 Umdrehungen pro Minute eingerichtet sind. Rat in Berlin findet man im Schellackfachhandel, im Schöneberger Grammophon-Salon-Schumacher in der Eisenacher Straße 11.

Die Regel sind solche Preise aber noch lange nicht. Der Großteil des Angebots findet sich in der Preisspanne zwischen fünf und 20 Euro in den Kisten. An die drängen sich eben nicht mehr nur die „Friedhofsblonden“, wie Thomas Lefeber von Logo seine etwas betagteren Kunden nennt. Seit 30 Jahren betreibt er seinen Laden, der vergangenes Jahr von der Bergmannstraße um die Ecke in die Nostitzstraße zog. Dort sieht man auch junges Publikum. Das letztlich das Gleiche will wie die Alten. Gefragt sind die immer gleichen klassischen Namen. Musikalisch gibt sich der Secondhandkunde wertkonservativ. Verlangt wird nach Led Zeppelin, AC/DC, David Bowie, Pink Floyd. Natürlich nach den Beatles und Rolling Stones. Wenn es ein bisserl neuer sein soll, heißen die Bands Joy Division oder Nirvana. „Das ist langweilig“, gibt Nöth von Comeback Records zu. „Aber es ist halt leider so.“

Auch Sammler sterben

Von diesen Rockklassikern sind bald viele Exemplare auf den Markt zu erwarten. Weil halt auch Schallplattensammler sterben. Gerade so ein trauriger Anlass stimmt die Secondhandbranche hoffnungsfroh, denn hier wartet mit den Nachlässen der Nachschub: die tollen Beatplatten aus den 60ern, die edlen Scheiben aus den Glanzzeiten des Jazz, all die gesuchten Platten, die die erste, in den 40er und 50er Jahren geborene Sammlergeneration zusammengetragen hat.

Dass die Schallplatte überhaupt überlebt hat, ist auch dem Siegeszug von Techno und House in den 90er Jahren zu verdanken. In diesen Musikszenen wurde in den mageren Jahren der Schallplatte, ähnlich wie im Hardcorepunk, weiter Vinyl herausgebracht.

Die Platten der goldenen Clubmusikära findet man heute etwa in der Kreuzberger Adalbertstraße. Ein chilliger, nicht allzu lauter Housebeat weist den Weg zum Laden im zweiten Hinterhof. Man sieht nicht, aber man hört, dass er hier irgendwo sein muss. Bis man vor zwei weit aufgesperrten Türen steht und einen Raum mit hohen Decken betritt, in dem die Holzvertäfelung an den Wänden nach Do-it-yourself aussieht. Und in dem überall Plattenkisten stehen.

Record Loft nennt sich der Shop, den vor gut einem Jahr ein paar befreundete DJs aus der House- und Technoszene gegründet haben. Im Gegensatz zum Hard Wax, dem vom Technoproduzenten Mark Ernestus gegründeten legendären Berliner House- und Technoladen, führt das Record Loft fast ausschließlich gebrauchte und wenige neue Platten. Aber für die Elektroszene ist der versteckt liegende Shop ein weiterer wichtiger Anlaufpunkt – das kleine Betreiberkollektiv, das aus US-Amerikanern, Engländern und Polen besteht, kauft ständig Sammlungen in ganz Europa auf.

■ 2014 wurden in Deutschland 1,8 Millionen Schallplatten verkauft. Umgesetzt wurden damit 38 Millionen Euro, neun Millionen mehr als im Vorjahr, ein Zuwachs von 33 Prozent. Bereits von 2012 auf 2013 hatte der Plattenverkauf enorm zugelegt, damals stieg der Umsatz sogar um fast 50 Prozent. Nun erreicht Vinyl von Gesamtmarkt immerhin wieder einen Anteil von 2,6 Prozent. Der einzige sonst wachsende Markt im Musikbereich ist der des Streamings.

■ Vinylkäufer sind zu vier Fünfteln Männer, fast die Hälfte der KäuferInnen sind zwischen 40 und 49 Jahre alt.

■ Zu Hochzeiten des Vinyls, im Jahr 1978, wurden 64,3 Millionen Alben jährlich verkauft – der höchste Wert ever!

■ Auch in den USA, dem größten Musikmarkt der Welt und gerne als Gradmesser für die Zukunft genommen, hat der Umsatz an Vinyl im vergangenen Jahr um 52 Prozent zugenommen. Insgesamt wurden dort 9,2 Millionen Schallplatten verkauft.

■ Lieblingstonträger in Deutschland bleibt aber, trotz leicht rückläufiger Tendenz, die CD: 87,1 Millionen CDs wurden im vergangenen Jahr verkauft. Insgesamt macht der Anteil der Compact Disc immer noch zwei Drittel aller Musikkäufe (physisch und digital) aus. Trotzdem wird von Fachleuten der CD auf längere Sicht bereits der Tod prognostiziert. Genau das aber hat man auch mal von der Vinylschallplatte gesagt.

Einer der Gründer ist Alex alias DJ Richard, der aus Rhode Island stammt und seit zweieinhalb Jahren in Berlin lebt. „Es ist vor allem ein Ort der Kommunikation für uns“, sagt er, „wir reden hier viel mit den Leuten, es fühlt sich mehr wie ein Treff von Freunden an.“

So wirkt der Shop auch. Vor einem Wandteppich steht ein großer Tisch, auf dem Musikmagazine verstreut sind – drumherum stehen gemütliche, leicht abgeranzte Sofas. An den Wänden die üblichen, schlichten Plattenhüllen der Elektroreleases: in Schwarz oder Weiß und nur mit einem Loch an der Stelle, wo das Etikett ist.

DJ Richard ist 27 Jahre alt, als Teil der Elektroszene aber wie selbstverständlich mit Vinyl aufgewachsen. Für DJ Richard ist der Laden ein Nebenverdienst. Wie nebenbei erwähnt er, dass er sein Geld auch mit Auflegen in der Panorama Bar im Berghain und dem Stattbad in Wedding verdient – nicht gerade x-beliebige Clubs in der Berliner Szene.

Dort, wo sich die Plattenteller immer weiterdrehen.

■ Coverabbildungen aus dem Bildband „Berlin on Vinyl“ von Bernd Leyon