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Archiv-Artikel

„Da liegen heute noch Knochen im Sand“

ERBE Traumata werden durch Körperzellen übertragen, sagt Marc Sinan, Komponist am Berliner Gorki-Theater. Sein neues Stück handelt vom Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren. Ein Gespräch über seine Vorfahren, Schuld, Musik und unsere DNA

Marc Sinan

■ Der Mann: Sinan, 38, ist Komponist. Er hat in Salzburg und Boston studiert, Sologitarre mit dem Royal Philharmonic Orchestra gespielt. Für das Album „Hasretim“ spürte er seiner deutschtürkischarmenischen Identität nach. Er lebt mit seiner Familie bei Berlin.

■ Die Bühne: Sinans neues Stück „Komitas“ über den Genozid an den Armeniern hatte gestern am Berliner Gorki-Theater Premiere. Weitere Vorstellungen am heutigen Samstag – und am 24. April. Am 2. Mai findet ein Konzert mit Auszügen des Musiktheaters im Berliner Radialsystem statt.

GESPRÄCH NATALY BLEUEL FOTO DAVID OLIVEIRA

taz: Herr Sinan, Ihr Vater kam aus Berlin, Ihre Mutter aus der Türkei und Ihre Großmutter war Armenierin. Sie selbst sind bei München aufgewachsen. Können Sie irgendetwas „Armenisches“ an sich entdecken?

Marc Sinan: Weil ich nur wenige Armenier kenne, kann ich das nicht beurteilen. Ich bin eher ein touristischer Armenier. Für mein erstes türkisches Projekt mit den Dresdner Sinfonikern, „Dede Korkut“, bin ich vom Schwarzen Meer zur Grenze nach Armenien gefahren und habe traditionelle Musiker aufgenommen. Die Musik der Schwarzmeerküste ist sehr rhythmisch, hat eine große Körperspannung und Nervosität. Das gefällt mir, aber es widerspricht meinem musikalischen Naturell. Das ist melancholischer.

Und entspricht eher dem armenischen Komponisten Komitas, mit dem Sie sich jetzt befassen?

Ja, bei ihm und in der armenischen Musik habe ich meine melancholische Seite entdeckt. Vielleicht ist das was Armenisches?

Wenn Sie sprechen, hört man eher einen bayerischen Sound. Hat das Armenische in Ihrer Kindheit und Jugend überhaupt eine Rolle gespielt?

Ich habe erst mit 12, 13 Jahren herausgefunden, dass es eine armenische Vorgeschichte in meiner Familie gibt.

Wie kamen Sie drauf?

Ich war einen Sommer am Schwarzen Meer, weil ich meiner Großmutter helfen wollte. Mein Opa hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen – und ich hatte schon ein kleines Helfersyndrom, weil ich eine behinderte Schwester hatte. Irgendwann begann meine Oma davon zu erzählen. Und weil ich mich als Jugendlicher intensiv mit dem Holocaust beschäftigte, fiel ihre Geschichte auf fruchtbaren Boden.

Was hat Ihre Großmutter erzählt?

Wie sie als Kind in einem Lager war, in einem Heim. Wie sie da von ihrer Adoptivmutter abgeholt wurde. Und dass die anderen Kinder alle tot waren. Später erzählte meine Mutter mal davon. Irritierend war für mich, dass man mal darüber sprechen durfte – und dann wieder nicht. Dass meine Mutter sagte: Wenn wir in der Türkei sind, sagst du lieber nicht, dass deine Oma Armenierin ist. Das war tabu. So vervollständigte sich das Bild.

Welches Bild?

Ich habe eine wahnsinnig liebenswerte Familie, aber viele von uns sind psychisch gezeichnet. Einen Anteil an unseren psychischen Deformationen hat sicher das Trauma meiner Großmutter. Ich glaube, dass mein melancholisches Moment etwas mit ihrer Geschichte zu tun haben muss. Wenn ich nämlich meiner Melancholie nachgehe, bleibe ich nicht an meiner eigenen Kindheit hängen oder an der meiner Schwester, die starb, als ich 18 war. Sondern an der meiner Großmutter. Ich habe gemerkt, dass dieses Thema das einzige ist, über das ich nicht sprechen kann, ohne den Tränen nahe zu sein. Das ist doch merkwürdig, oder?

Vielleicht sollten Sie mal eine Familienaufstellung machen.

Die Psychotherapie reicht mir. Ich bin hin und her gerissen zwischen dem Verstand, der sagt: Was regst du dich so auf? Und dem Gefühl, das sagt: Da ist was! So kam ich auf die Epigenetik.

Was ist Epigenetik?

Das ist eine eiskalte, verwissenschaftlichte Art, zu sagen: Was du empfindest, ist richtig. Denn deine Zellen sind anders als die von jemandem, dessen Großmutter nicht traumatisiert wurde. Darauf kam ich, weil ich mich fragte, als ich das Projekt über Komitas begann: Was hat diese Geschichte des Genozids an den Armeniern vor 100 Jahren mit uns heute zu tun? Welche Relevanz soll meine Arbeit über Komitas für jemanden haben, der meine Geschichte nicht hat?

Wie lautet Ihre Antwort?

Wir sind ein Kollektiv aus Einzelschicksalen. Wenn es eine kollektive traumatische Erfahrung vor 100 Jahren gab, müssen Opfer wie Täter davon gezeichnet sein. Und dementsprechend deren Enkel. Um dem nachzugehen, habe ich Wissenschaftler befragt.

Was haben Sie gelernt?

Man wusste aus der Holocaust-Forschung, dass Nachkommen von Überlebenden psychische Deformationen in sich tragen. Sie sind deutlich häufiger depressiv als andere und haben bestimmte Handlungsmuster im Leben, die sich unterscheiden von Menschen, deren Vorfahren den Holocaust nicht so erlebten. Da gab es Forschungen, aber auch Unschärfen. Dann kam der 11. September 2001. Die Forscher untersuchten die Auswirkungen auf die Traumatisierten. Und sahen: Die Zellen verändern sich.

Die Zellen verändern sich durch psychische Traumata?

Die DNA hat eine Methyl-Schicht, die dafür verantwortlich ist, wie sich die DNA reproduzieren kann. Die kann man sich vorstellen wie die Hand, die man über ein beschriftetes Blatt Papier legt, das man dann kopiert. Da entsteht eine bestimmte Art der Reproduktion. Man stellte an den 9/11-Opfern fest, dass ihre Methylschicht sich nach bestimmten Mustern verändert hatte.

Die Traumatisierten hatten eine andere Methylierung als die Nichttraumatisierten?

Genau, und die Methylschicht veränderte sich wieder, wenn die Traumatisierten durch einen Heilungsprozess gehen konnten. Durch eine Psychotherapie oder ein gutes soziales Umfeld, je nachdem. Dann entstand wieder eine gesunde Zelle. Das zweite Experiment war ein Versuch mit Mäusen. Mäusebabys werden gestresst, indem man ihnen die Mütter entzieht. Ihre Methylierung verändert sich. Und: auch die ihrer Kinder und Kindeskinder. Die dritte Generation hat noch die gleichen Methylmuster wie die Traumatisierten – und Verhaltensauffälligkeiten. Die lassen sich korrigieren, indem man die Mäuse wieder in ein heiles Umfeld gibt, und dann verändert sich, nachweisbar, die Methylierung. Und, nachweisbar, das Verhalten.

Das klingt seriös.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der der verifizierbare Nachweis verlangt wird – und der ist ja auch hochinteressant. Denn was bedeutet das für die Gesellschaft? Wenn ich eine Generation präge – ob durch Traumata oder auch positive Erfahrungen –, hat das über Generationen hinaus Konsequenzen. Es bedeutet, wenn man heute den IS Menschen massenweise traumatisieren lässt, weil es zu wenig lukrativ erscheint, ihn daran zu hindern – dann wird das noch Folgen in drei Generationen haben. So war das 1915 auch.

1915 begann der Völkermord an den im Osmanischen Reich lebenden Armeniern. Bis zu anderthalb Million Menschen wurden umgebracht, vergewaltigt, versklavt und verschleppt. Das Morden begann, so datiert man es heute symbolisch, am 24. April in Konstantinopel. Armenische Intellektuelle und Künstler, die dort wohnten, wurden deportiert – so auch Komitas, mit dem Sie sich beschäftigen. Wer war dieser Mann?

Komitas Vardapet kam 1869 in Kütahya zur Welt, südlich von Konstantinopel. Seine Eltern waren Armenier. Sie starben beide, mit 11 war er Vollwaise. Seine Großmutter schickte ihn in das 1.500 Kilometer entfernte Etschmiadsin – in ein Kloster, den Sitz des Oberhaupts der christlichen armenischen Kirche. Komitas konnte kein Armenisch. Aber er sang so schön, dass er aufgenommen wurde. Und dann wurde er unglaublich erfolgreich. Er hatte die Volksmusik der Armenier gesammelt, indem er durch die Dörfer reiste. Er komponierte Kirchenmusik, die armenische Messe. Und er reiste durch Europa, studierte in Berlin – besuchte auch die Sing-Akademie, die heute das Gorki-Theater ist. Am 24. April 1915 wurde er mit einigen hundert anderen Intellektuellen aus der Stadt deportiert, fast alle wurden ermordet. Komitas überlebte, zusammen mit acht anderen. Seine Aufzeichnungen waren verwüstet. Von dem Tag an verstummte er. Er lebte noch zwanzig Jahre, in psychiatrischen Anstalten.

Und Sie bringen jetzt seine Musik auf die Bühne?

Seine Musik spielt in meinem Stück eine wichtige Rolle. Aber ich habe vor allem neue komponiert. Mich beschäftigt die Frage, warum dieser Mensch so erschüttert war, dass er nicht mehr ins Leben zurückfand. Ein dickes Buch, „The Archeology of Madness“, beinhaltet nur die Beschreibung der Krankheit von Komitas, der ein Nationalsymbol war. Es gibt Menschen, die überwinden Traumata; andere nicht. Warum?

Haben Sie eine Erklärung?

Komitas wurde als Kind zum Waisen und verstand die Sprache seines Volkes nicht. Er fand nur deshalb seinen Platz in der armenischen Gesellschaft, an dieser berühmten Schule, an dem zentralen Kloster der armenischen Kirche, weil er so schön singen und musizieren konnte. Die Musik hat ihm seine Welt eröffnet, seine Heimat. Ich habe hier das Gesamtwerk in 15 Bänden, es ist ein sehr heterogenes Material, gesammelte Lieder und Werke und Tänze und Eigenkompositionen. Da fand eine Verschmelzung statt, zwischen der Person und der Volksmusik. Für uns Musiker ist armenische Musik gleichbedeutend mit Komitas. Dann wurde die Grundlage dieser Kultur – nämlich die Menschen, über eine Million Menschen – vernichtet. Das konnte er nicht überwinden. Er hat seine Heimat verloren, die Musik. Und das Volk, das sie machte.

Wenn die Musik von Komitas jetzt wieder erklingt, ist das für Sie heilsam?

Für mich ganz bestimmt, und ich hätte ihn früher spielen sollen, nicht jetzt, zum 100. Jahrestag. Der wird auf merkwürdige Art politisch überfrachtet. Was da teilweise künstlerisch passiert, finde ich fast schon gefährlich. Kennen Sie System of a Down?

Die amerikanische Metal-Band? Ihre Mitglieder haben armenische Vorfahren.

Die haben ein Video gemacht, da stürmen junge Armenier mit der armenischen Flagge den in der Türkei stehenden Berg Ararat. Sie verbrennen eine Axt und man sieht Symbole von 1915 und Sumgait. In Sumgait in Aserbaidschan gab es 1988 ein Pogrom gegen Armenier. Dann flackern am Times Square Adolf Hitler über den Bildschirm und der aserbaidschanische Diktator Alijew. Mich erinnert das an die Legitimation von Gewalt in Palästina.

Das ist mir jetzt zu viel.

Man weiß aus der Psychologie, dass viele Täter vorher Opfer waren. Ob das Sexualstraftäter sind, die als Kinder missbraucht wurden. Armenier, die zur Axt greifen. Juden, die den Holocaust erlebten. Oder Palästinenser, die die Besatzung erleben. Der Impuls zu Wut und Zorn ist nachvollziehbar, aber das macht einen nicht gesund. Ich war vor drei Jahren im Westjordanland und merkte, dass das eine tief traumatisierte Gesellschaft ist, die nicht dazu kommt, ihre eigenen Probleme zu lösen – weil es immer um das Problem der Besatzung geht. Das ist viel größer.

Keine türkische Regierung hat den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Erst kürzlich sagte Recep Erdogan wieder, die Behauptung, 1,5 Millionen Armenier seien getötet worden, sei übertrieben und nicht erwiesen. Nicht mal die deutsche Bundesregierung spricht offiziell von einem Genozid. Das Deutsche Kaiserreich war im Ersten Weltkrieg enger Verbündeter des Osmanischen Reichs.

Das Bedürfnis der Armenier nach einem türkischen Eingeständnis der Tat ist völlig nachvollziehbar und richtig. Aber es muss unabhängig sein von der eigenen Entwicklung. Man darf sich als Opfer nicht vom Täter abhängig machen.

Gehen Sie da nicht sehr sanft mit der Geschichte um?

Die historische Schuld der Türken und der schändliche Umgang damit stehen außer Frage. Die türkische Gesellschaft leidet auch an ihrer Geschichte. Die türkische Gesellschaft ist bis ins kleinste Detail gezeichnet davon, dass man für die Vergangenheit keine Verantwortung übernimmt. Man schiebt alle Verantwortung ab auf diese Regierung, personifiziert durch den Großen Präsidenten, den sie sich alle wünschen. Und der die Gesellschaft in eine immer größer werdende Unmündigkeit stürzt. Das war mein Thema in „Dede Korkut“: die Verantwortung der Täter für ihre Schuld. In „Komitas“ geht es um die Verantwortung der Opfer sich selbst gegenüber. Konflikte müssen heilen, sonst brechen sie auf. Schauen Sie sich den IS in Syrien an!

Was hat das armenische Trauma mit dem IS zu tun?

Das Hauptquartier des IS ist in Raqqa. Die Region um Raqqa war das Ziel der Deportationen der Armenier. Die wenigen, die bis dahin durchgehalten haben, haben überlebt, wenn sie noch genug Geld hatten, um sich dort einzumieten. Viele wurden auf Todesmärsche in die Wüste bei Deir-ez Zor geschickt. Da liegen heute noch menschliche Knochen im Sand. Einige Armenier überlebten in Aleppo und Kobani, zwangskonvertiert, sie sind heute Sunniten. Sie gehören zu den Sunniten, die vom IS verfolgt werden. Und in Raqqa – da muss ich tief Luft holen – hat der IS sein Hauptquartier: in einer geschwärzten armenischen Kirche.

Das ist unheimlich.

Der IS zerstört die Kultur der anderen heute so, wie vor 100 Jahren das Osmanische Reich die armenischen Klöster geschleift hat. Das ist die Methode der kulturellen Tilgung. Und so wie der IS heute sagt: Wenn ihr nicht unseres Glaubens seid, töten wir euch!, so war das vor 100 Jahren auch für die Armenier.

Sind das die Untoten der Geschichte?

Mark Twain soll gesagt haben: History never repeats itself but it rhymes. Der IS ist ein scheußlicher Reim auf die Geschichte. Ich bin der Überzeugung, dass die Menschen, die den Islamisten in Scharen zulaufen, zu derart perverser Gewalt fähig sind, weil sie Generationen von unbewältigter Täterschaft oder Opferschaft in ihren Zellen tragen. Ein gesunder, glücklicher Mensch kann zu so etwas nicht in der Lage sein.

Haben Sie Ihre Melancholie jetzt im Griff? Sie leben hier in einem, so scheint es, heilsamen Umfeld, mit drei rotlockigen Töchtern, die vom Haus über die Wiese zum See tollen.

Ja, ich bin gerade nur gestresst vom Alltag. Die Tagesmutter ist krank, meine Frau in ihrer Agentur, und ich müsste mich auf die Proben konzentrieren.

Ist Ihr Name, Sinan, denn armenisch? Armenische Namen wurden ja oft türkifiziert.

Ich heiße eigentlich Marc Sinan Baute, Sinan ist mein zweiter Vorname. Meine Großmutter hieß Vahide, das ist türkisch. Getauft war sie auf den Namen Ani. Das habe ich letztes Jahr erfahren, kurz vor der Geburt meiner Tochter. Sie heißt jetzt Ani.

Nataly Bleuel, 47, ist Autorin. Ihre Großmutter glaubte noch lange, nachdem ihr Mann im Krieg gefallen war, an den Nationalsozialismus. Über die Auswirkungen dieser Schuld auf ihre Generation schreibt sie auch in ihrem Buch „Raus hier! Anstiftung zum guten Leben im falschen“, das dieser Tage erscheint

David Oliveira, 33, ist Fotograf. Er hat portugiesische Vorfahren