LESERINNENBRIEFE :
Chemisches Ungleichgewicht?
■ betr.: „Brauchen wir mehr PsychotherapeutInnen?“, taz v. 11. 4. 15
Die Aussage des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach von den „unbalancierten chemischen Prozessen im Gehirn vieler depressiver Menschen“ kann nicht unwidersprochen bleiben. Schon vor Jahren hat die amerikanische Zulassungsbehörde (FDA) diese Behauptung untersagt, weil sie irreführend und nicht belegt sei.
Peter Goetzsche, international angesehener Direktor des Nordischen Cochrane-Instituts in Kopenhagen, bezeichnet die Behauptung vom chemischen Ungleichgewicht als Ursache psychischer Störungen m. E. zu Recht als „Mythos Nummer 1 in der Psychiatrie“. Sie sei völlig falsch. Wir hätten bisher noch keine Vorstellung davon, wie psychosoziale Faktoren, biochemische Prozesse, Rezeptoren und neutrale Bahnen, die zu psychischer Krankheit führen, zusammenwirken. Dem stimmen auch viele Hirnforscher zu.
Die Serotoninmangelhypothese bei depressiven Patienten und die Dopaminmangelhypothese bei an Schizophrenie erkrankten Patienten sind seit langem widerlegt. Es gibt primär kein chemisches Ungleichgewicht, aber wenn psychische Störungen mit psychoaktiven Medikamenten behandelt werden, wird ein künstliches chemisches Ungleichgewicht erzeugt, der das Gehirn entgegenzuwirken versucht. Ursache vieler Rückfälle beim Absetzen. Dennoch können Psychopharmaka hilfreich sein. Ihre Wirkung wird aber bei weitem überschätzt und der Schaden (Langzeitfolgen) in der Psychiatrie unterschätzt. Ansonsten ist Lauterbachs Statement zuzustimmen.DIETER LEHMKUHL, Nervenarzt, Berlin
Nicht in die Zukunft gerichtet
■ betr.: „Hilfe! Merkel ist in uns“, taz vom 11. 4. 15
Das wäre nicht so schlimm, wenn in ihr = CDU was drin wäre. Das ist die Situation und Hoffnung zugleich. Die CDU ist eine praxistaugliche, jedoch nicht zukunftsgerichtete Partei. Nur, Zukunft ist nicht vorhersagbar, die Beschäftigung mit ihr folglich unergiebig. Doch gab Konfuzius zu bedenken: „Wer an die Zukunft nicht denkt, wird bald große Sorgen haben.“ Dieses Defizit gleicht Merkel aus, indem sie sich von den Koalitionspartnern in die „Mitte“ justieren lässt,was ihr den Ruf der Verlässlichkeit bringt.
Der Hilferuf von Peter Unfried ist ein verzweifelterer. Die Zeit verrinnt ungenutzt, das Fenster schließt sich. „Wer soll mit wem die sozialökologische Transformation machen“, ist seine Frage. Die Missgunst der drei Parteien links von der CDU ist so groß, dass mit neun Stimmen Mehrheit im Bundestag an ein Regieren nicht zu denken war. Der Handlungsdruck durch Klimawandel und mit ihm die Vermeidungskosten (Stern-Report) steigen von Jahr zu Jahr gesetzmäßig – die einzig sichere Vorhersage. Ob die Grünen die Energiewende als ersten Schritt zur Eindämmung des Klimawandels zum Hauptthema machen? Hamburg und auch Stuttgart sind bisher keine Vorboten. Viele in Deutschland, Europa, der Welt spüren, dass es nicht gut geht. Die zu erwartenden Einschränkungen machen die vielen nicht attraktiver. KLAUS WARZECHA, Wiesbaden
Menschenfeindlicher Charakter
■ betr.: „Heidegger und die Vernichtung der Juden“, taz vom 9. 4. 15
Heidegger sells. Unverfroren werden jetzt auch noch seine „Schwarzen Hefte“ vermarktet – und die „kritischen“ Denker stehen nicht an, brav dafür zu werben, statt die abgrundtiefe Verruchtheit von Heideggers Denken zu thematisieren.
Kritik verdient nicht bloß der „zynisch unmenschliche Charakter“ von Heideggers Sprache, von der bei Faye, Kellerer und Rastier die Rede ist – weit verwerflicher ist die Unmenschlichkeit von Heideggers Denken. Was das Autorentrio in der taz schreibt, ist oberflächlich und verniedlichend und kaschiert so den menschenfeindlichen Charakter der Produkte dieses deutschen Denkers.
Oberflächlich: Sie zitieren Heidegger aus dem Jahr 1946 kommentarlos mit der Formulierung von der „Verwilderung des Nationalsozialismus“. Aber: Wer sagt, der Nationalsozialismus könne „verwildern“, der behauptet damit zugleich, es gebe einen „unverwilderten“ Nationalsozialismus. Das aber kann nur sagen, wer ein überzeugter Nationalsozialist ist. Also bekennt sich Heidegger hier noch im Jahr 1946 offen zum Nationalsozialismus (dem er 1942 „geschichtliche Einzigartigkeit“ attestiert hatte: „Hölderlins Hymne ‚Der Ister‘“). Diesen Skandal jedoch hält dieses Autorentrio nicht für bemerkenswert.
Verniedlichend: Diese Autoren mokieren sich über Heideggers „unterstellte Austauschbarkeit von Täter und Opfer nach der Niederlage von 1945“. (Wessen „Niederlage“? Dieses Zitat ist nicht von Heidegger, sondern von Faye, Kellerer und Rastier!) Aber nicht nur die Deutschen sieht Heidegger – nach „der Niederlage von 1945“ – als „Opfer“. Weit schlimmer ist, dass Heidegger im Jahr 1943 die Vernichtung der Juden zynisch als „Opfer“ feierte, als „Opfer“, das der Bewahrung „der Würde des Seins“ diene: „Das Opfer ist der Abschied vom Seienden auf dem Gang zur Wahrung der Gunst des Seins.“ (Nachwort zu: „Was ist Metaphysik?“) Dem Hingeschlachtet-Werden die „Weihe des ‚Opfers‘ zu verleihen“, „ist die perfideste Form der Unmenschlichkeit“.
Heideggers Denken ist „das Denken der Inhumanität“, wie Hassan Givsan 1998 in einem Buchtitel konstatiert (das vorige Zitat dort auf S. 340). Wer von Heidegger redet und heute noch immer diese Tatsache verschweigt, geht diesem Wortkünstler auf den philosophischen Leim und macht sich zu seinem Propagandisten – auch dann, wenn er sich „kritisch“ geriert und statt von Heideggers Denkinhalten bloß von dessen Sprache redet.
Der Titel dieses Artikels hätte einen besseren Text verdient.DETLEF SPALT, Darmstadt