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Archiv-Artikel

Ein Ende der Illusion

Von GRÄ

„Das ist doch gaga“, sagt Jan Philipp Reemtsma, als ihm die Pressesprecherin des Hamburger Instituts für Sozialforschung mitteilt, dass die Leute vor der Tür Schlange stehen, bevor überhaupt der Einlass begonnen hat. Die Leute wollen hören, was er zum Auftakt der Vortragsreihe „Gewalt und Moderne“ zu sagen hat und sie tun gut daran. Reemtsma zu hören, ist wie eine Schule des Denkens, eine Schule, die klar formuliert und auch noch die relevanten Fragen stellt.

Um sinnvolle und alberne Fragen ging es zu Beginn, zu Letzteren zählt Reemtsma diejenige nach dem Warum der Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts. Es sei müßig, zu fragen, wie gute Familienväter zugleich grausame Folterer sein könnten – eben dies sei seit Jahrhunderten zu beobachten und erhellend sei einzig, zu fragen, warum dies mit solcher Hartnäckigkeit gefragt würde.

Weil die Moderne ein Selbstbild entwickelt hat, in dem Gewalt verdrängt wird, antwortet Reemtsma. Erstmals in der Geschichte des Abendlands sei Gewalt nur noch dann akzeptiert worden, wenn sie vermeintlich oder tatsächlich vor schlimmerer Gewalt schützte. Nicht umsonst sei der 1.Weltkrieg als „war to end all wars“ geführt worden – und es sei dabei unerheblich, so Reemtsma, ob es sich um Heuchelei handle oder nicht.

Im Zuge dieses neuen Selbstbildes habe die Gesellschaft jedoch eines verdrängt, nämlich die Gewalt, die um ihrer selbst willen ausgeübt werde, ohne weiteres Ziel, als den Körper des anderen zu quälen. Niemand könne sich über die Misshandlungen in Abu-Ghraib wundern, denn wann immer Räume für straffreie Gewaltausübung geschaffen würden, fänden sich Menschen, die sie nutzten. Nur eine Minderheit widerstehe hier.

Es ist bezeichnend, dass sich bei der späteren Diskussion genau hier Widerspruch entzündete. Warum es sich nicht lohne, die Gründe zu untersuchen, die jene Minderheit zum Gewaltverzicht führe, wollte ein Mann durchaus zu Recht erfahren. Unrecht hatte er damit, Reemtsma Zynismus vorzuwerfen. Denn der endete mit einem Plädoyer, an der Ächtung der Gewalt festzuhalten. Im Bewusstsein drohenden – und erfahrenen – Scheiterns und im Selbstbewusstsein, damit „am wohl bedeutsamsten zivilisatorischen Schritt der Menschheitsgeschichte“ mitzuwirken. GRÄ

Nächster Termin: 7.2., Hans Gerhard Kippenberg, Gewalt und Religion