Ausgewilderte Erzählungen

Nagelneue und beinahe klassische Novellen von T. C. Boyle: der Band „Zähne und Klauen“

VON FRANK SCHÄFER

Manchmal macht es T. C. Boyle einem fast zu einfach. Dann zweifelt man kurz an seiner Meisterschaft und argwöhnt Kunsthandwerk. Verdächtig ist eine so gut geschmierte Erzählmaschine ja sowieso immer. Aber die Zweifel währen nie lange, dann kommt nämlich schon die nächste Geschichte, also die nächste abgefeimte Exposition, die so ganz en passant das Rätsel aufwirft, das man jetzt aber auch noch gelöst haben möchte, das nächste plastisch beschriebene Szenario, und immer wieder das nächste treffsichere Bild: „Er war siebzehn, ein Vollstipendiat mit schmalen Schultern, Handgelenken, die man mit Daumen und Mittelfinger umfassen konnte, und einem Kopf, der wie ein Ballon an der dünnen Schnur seines Halses zu schweben schien.“

„Zähne und Klauen“ heißt Boyles neue Erzählungssammlung, und eigentlich ist wieder alles fast zu klar: Wilde Tiere laufen durch diese Geschichten; ihre Spuren bilden das Raster, das sie untereinander vernetzt. Boyle hat hier eine beinahe klassische Novellensammlung vorgelegt. Er erzählt von „unerhörten Begebenheiten“, deren Realitätsgehalt aber nach allen Regeln der Kunst beglaubigt wird, und wie schon in Boccaccios gattungsbildendem „Decamerone“ der berühmte „Falke“ sind auch hier oft Tiere die Dingsymbole, die für das ästhetische Unterfutter sorgen. Obwohl „Unterfutter“ schon wieder fast zu viel gesagt ist, denn die Leitmotive sind in den meisten Geschichten Boyles ganz organisch in die Handlung integriert – eben als Protagonisten.

In der Titelgeschichte etwa gewinnt der arbeits- und antriebslose Ich-Erzähler Junior beim Würfeln einen Serval, eine kleinere afrikanische Raubkatze. Er hat dem Spiel überhaupt nur zugestimmt, um die hübsche Bedienung seiner Stammkneipe zu beeindrucken, und es funktioniert tatsächlich. Sie hilft ihm beim Transport des Tieres, beim Füttern, das sich zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit entwickelt, und bleibt zwei Nächte, in denen der Serval das eigens für ihn geräumte Schlafzimmer auseinandernimmt. Auch das hat natürlich seine symbolische Dimension: Nicht die beiden landen im Schlafzimmer, sondern das Tier. Es wird Junior bald klar, dass er den Serval nicht domestizieren wird, und schließlich eröffnet ihm seine neue Freundin Daria („Weil du süß bist, das bist du, und ich ehrlich zu dir sein will“), dass sie nicht länger bleiben kann. Fast ein bisschen stereotyp bzw. sogar sexistisch: die Frau als das nicht zu domestizierende Raubtier. Aber jetzt variiert Boyle das Motiv. Junior säuft sich den Frust weg – und zurück ins animalische Stadium. Er selbst wird nun zum Tier, wütet ein wenig in der Kneipe und begibt sich endlich ins Schlafzimmer, wo der Serval auf ihn wartet. Ein südkalifornischer Drehbuchschreiber hätte sich jetzt noch einen Kaffee geholt, aber Boyle ist Novellist, und eine regelgerechte Novelle endet nun einmal mit einer Andeutung zukünftigen Geschehens.

Die spannungsvolle Dichotomie von Natur und Zivilisation – bzw. von Affekt und Vernunft – ist ein Topos, der Boyles gesamtes Werk strukturiert. Immer wieder muss sie als Modell herhalten, um die Beziehungen, nicht zuletzt die Liebesverhältnisse seiner Protagonisten, zu spiegeln. Auch in diesen Erzählungen lässt er diese konkurrierenden oder vielmehr komplementären Prinzipien immer wieder aufeinander los. In „Hundologie“ etwa beschreibt er die systematische Auswilderung einer Hunde-Verhaltensforscherin, die sich schließlich völlig ihrem Rudel assimiliert – und ihr spießbürgerlicher Nachbar ist zunächst irritiert, fühlt sich aber mehr und mehr von ihr angezogen. In „Windsbraut“ rettet der tumbe Insulaner Robbie der Ornithologin Junie während eines Sturms das Leben. Die beiden haben eine leidenschaftliche Affäre, er hält schließlich um ihre Hand an, aber die flatterhafte Junie lehnt ab. Sie trennen sich im Streit. Aber dann erreicht die nächste Sturmfront die Insel, und dieses Mal kommt Robbie zu spät, der Orkan weht sie buchstäblich fort.

Wie gesagt, man hat die Struktur dieser Erzählungen manchmal ein bisschen zu schnell durchschaut. Aber die Anschaulichkeit, mit der Boyle die unterschiedlichen Milieus und Soziotope vergegenwärtigt, entschädigt einen voll und ganz. Ob er die Vita eines Fixers in den Sechzigern ins Bild setzt, den gefahrvollen Ritt einer Witwe von Boston nach New York im beginnenden 18. Jahrhundert oder das Scheitern eines kleinstädtischen Kommuneprojekts in der Jetztzeit, in dem einmal mehr das Ideal eines zufriedenstellenden gesellschaftlichen Zusammenlebens von der Realität eingeholt wird, das liest sich nie anmaßend und gewollt. Man kauft ihm das alles gerne ab.

T. C. Boyle: „Zähne und Klauen“. Aus dem Amerikanischen von Anette Grube und Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2008, 319 Seiten, 19,90 Euro