piwik no script img

Archiv-Artikel

24 Tage Warten auf das Ende

Auf einem abgelegenen Hochsitz hat sich im südniedersächsischen Solling ein 58-Jähriger zu Tode gehungert. Die Polizei schließt ein Verbrechen aus. Was bleibt, sind ein Tagebuch und viele Fragen

VON REIMAR PAUL

Da oben also. Auf diesem Ansitz im Solling, halb hinter ein paar jungen Fichten versteckt und in knapp sechs Metern Höhe, hat sich der Mann über Wochen zu Tode gehungert. Hans-Peter Z., 58 Jahre alt, arbeitslos, einsam und offenbar so verzweifelt, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als zu sterben.

Die unteren Stufen des Holzbaus seien seit Monaten morsch gewesen und hätten schon längst erneuert werden sollen, berichten die Ermittler. Seit Monaten war deshalb auch niemand zum Jagen auf den Ansitz hinauf geklettert. Am vergangenen Freitag dann machten sich zwei Jäger mit Werkzeug und frisch gesägten Brettern zur Reparatur auf. Sie fanden die Tür zum Hochsitz geöffnet, davor einen Rucksack.

In dem gut vier Quadratmeter großen Raum entdeckten die Jagdleute dann auf einer Matratze die bereits verwesende Leiche. „Ein ganz schöner Schock“, sagt einer der Jäger. Die beiden verständigten die Polizei und die Feuerwehr in der nächstgelegenen Ortschaft Schlarpe, die mit zwölf Mann über die matschigen Waldwege anrückte und die Leiche des stark abgemagerten Mannes hinunter trug.

Seit am Dienstag erstmals eine Lokalausgabe der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen über den Fund berichtete, reagieren viele Leute in den Solling-Dörfern fassungslos. Fragen werden gestellt: Was treibt einen Menschen in den freiwilligen Hungertod? Wie kommt es, dass offenbar niemand den Mann vermisste? Hätte man ihm nicht helfen können?

Hinweise, wenn auch keine fertigen Antworten, liefert eine Kladde, die neben dem Toten lag. In dem A 5-Heft mit blauem Plastikeinband hat Hans-Peter Z. die Eindrücke und Gefühle im letzten Abschnitt seines Lebens aufgeschrieben. Und sein Sterben dokumentiert.

Sein Lebenslauf ist nur in Fragmenten bekannt: Hans-Peter Z. wurde am 12. April 1949 geboren. Er heiratete, das Paar bekam eine Tochter, die jetzt in der Nähe von Lübeck lebt. Ein paar Jahre arbeitete Z. als Vertreter, dann verlor er den Job, die Ehe ging in die Brüche, auch die Tochter brach den Kontakt ab. Eine Zeit lang wohnte Z. zurückgezogen in Seelze bei Hannover, danach in einem Vorort von Lübeck. Weil er dort seine Miete nicht bezahlen konnte, musste er erneut umziehen: nach Hannover, in ein Mehrfamilienhaus im Stadtteil Leinhausen – nicht die beste Wohngegend, wie es heißt.

Als ihm im Oktober auch diese Wohnung gekündigt wurde und er keine Arbeitslosenunterstützung mehr bekam, machte sich Z. mit dem Fahrrad auf den Weg von Hannover in Richtung Solling. Uslar liegt rund 120 Kilometer südlich der Landeshauptstadt im Kreis Northeim. Die waldreiche Mittelgebirgsgegend kannte Z. möglicherweise von seinen Dienstfahrten. Ob er sich gleich den Hochsitz bei Schlarpe aussuchte, ist unklar. Augenzeugen wollen Z. „irgendwann vor Weihnachten“ ein paar Kilometer entfernt in einem Nachbarrevier gesehen haben. Vermisst hat ihn offenbar niemand. Bei den Behörden ging der Polizei zufolge jedenfalls keine Meldung ein.

Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass Z. 24 Tage lang kein Essen zu sich genommen habe, nur ab und zu ein wenig Wasser getrunken. Z. schildert die Stadien seines körperlichen Ver- und Zerfalls. Er beschreibt, wie sich die Unterzuckerung bei ihm auswirkte, wie die Haut eintrocknete und welche inneren Organe nach seiner Einschätzung allmählich aussetzten. Mehrfach berichtet der 58-Jährige auch von seinen Schmerzen – und dass er nicht mehr leben wolle. Der letzte Eintrag datiert vom 13. Dezember. An diesem oder einem der folgenden Tage ist Z. vermutlich gestorben.

Einmal, so steht es auch in der Kladde, soll ein kleines Mädchen versucht haben, auf den Hochsitz zu klettern. Der besorgte Vater habe das Kind aber zurückgeholt. Der Hochsitz steht nicht weit entfernt von einem „Erlebniswald“ mit Abenteuerspielplatz, Badesee und „Baumlaboren“. Die ganze Gegend um Uslar ist ein beliebtes Ausflugsziel. „Da müssen in den letzten Wochen viele Spaziergänger vorbeigelaufen sein“, sagt Jagdpächter Hubert Hennecke. „Gemerkt hat keiner was.“

In dem Heft bittet Z. auch darum, dass es nach seinem Tod an seine Tochter geschickt werde. Das wurde inzwischen veranlasst. Die Polizei, die ein Verbrechen inzwischen ausschließt, hat den Fall abgeschlossen. Der Leichnam wurde freigegeben und soll in den nächsten Tagen bestattet werden. Auf hoher See.