Immer so weiter

Für Streckübungen geht man eigentlich nicht zu The Cure; ohne waren im Velodrom nicht mal die Haarspitzen von Robert Smith zu sehen. Doch er schafft es, den Frust darüber in Lust zu verwandeln

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Kein einziges Plakat hatte man in den letzten Wochen gesehen, es gibt keine neue CD, und doch musste das Cure-Konzert wegen großer Nachfrage von der Arena ins Velodrom verlegt werden. Auch das Velodrom war zu klein: Im überfüllten Innenrund hatten Menschen unter 1,80 Meter keine Chance auf einen Blick zur Bühne. So ging man nach dem umjubelten Opener „Plain Song“ auf Wanderschaft, zusammen mit hundert anderen schwarzgekleideten, bleichen Gestalten, die das unwirtliche Betonrund wie Untote auf der Flucht durchmaßen. Hinter jedem Block stürmte man voller Hoffnung in den Saal – vergebens.

Denn hinter jeder Eingangstür standen schon Trauben von Menschen und trotz aller gymnastischen Übungen – Wirbelsäule strecken, Hals verrenken – war es unmöglich, auch nur eine Silhouette der Musiker auszumachen. Nur im extremen Zehenstand gelang es für eine halbe Sekunde, den oberen Zipfel der Smith’schen Vogelnestfrisur zu erspähen. Deprimiert und resigniert nahm man schließlich am äußersten Rand des Hallenhalbrunds Platz, also dort, wo man nicht auf, sondern hinter die Bühne sieht. Hier konnte man wenigstens mit etwas Glück die markante Rückensansicht des Sängers erahnen, wenn er nicht gerade von einem Bühnenkran verdeckt wurde. Eine Berichterstattung ist unter diesen Umständen natürlich schwierig.

Immerhin, so viel ist zu sagen; Robert Smith beweist auch nach 30 Bühnenjahren Verlässlichkeit und Kontinuität, sprich Frisur und Kleidung sind wie immer. Auf ein Keyboard hat man diesmal verzichtet, die Gitarren übernehmen die Melodiearbeit, was manchmal ins arg Arabeske und leider auch zu unschönen Solorockismen führt. Der göttliche Gesang hingegen klingt jung und frisch wie nie. Wie bei „Lovecats“ das unverzichtbare Klaviergeklimper reproduziert wird, war von unserem Beobachtungsposten aus leider nicht auszumachen. So kam ein ums andere Stück zur Aufführung, oft in neuen Arrangements mit Akkustikgitarre und abgewandeltem Schluss.

Aber wer als Cure-Fan der ersten Stunde die letzten Alben nicht mehr so ganz ausführlich verfolgt und auswendig gelernt hatte, der ertappt sich nach etwa 120 Minuten epischer Breite bei dem ketzerischen Gedanken: Kann es sein, dass eine Band einfach zu viele Lieder hat? So dämmert man langsam weg und verliert sich in nebensächlichen Beobachtungen: Trägt Robert eine Armeehose oder ist es eher so Knitter-Seiden-Optik?

Zum Glück gibt es die muntere Runde Cure-Fans aus Sachsen, mit denen man am äußersten Rande des Geschehens zusammengepfercht ist. Die kräftig-lebendigen jungen Männer und temperamentvollen Frauen halten ihre Nachbarn mit milden Bierduschen und sanften Stößen wach, hin und wieder verlieren sie auch eine brennende Zigarette aus den schlenkernden Armen und Händen. All das sorgt für Aufregung und Leben. Aber Cure-Fans sind eine große Gemeinschaft und rundum friedliche, freundliche Menschen, so entschuldigen sich zumindest die Mädchen ein ums andere Mal mitfühlend, nachdem sie einem versehentlich ins Gesicht geschlagen oder dasselbe verbrannt hatten. So kommt man ins Gespräch.

Auch Robert Smith wird immer lebendiger, immer zutraulicher. Er hält, recht ungewöhnlich, ganze Ansprachen ans Publikum, aber wegen des ungünstigen Standortes kann man nur Worte wie „Germany Nikt-Raucker“ und „Internet“ verstehen. „Ok!“ und „Thank you!“ sagt er immer wieder schüchtern ins Mikrofon, während er langsam taumelnd am Bühnenrand entlangstromert. Und dann tritt er seitlich hinter die Bühne und zeigt sich uns Verstoßenen – uns, die wir im Dunkeln stehen – in Frontalansicht! Singt für uns, singt uns direkt an und dreht dazu verlegene Handpirouetten und schenkt uns diesen ganz intimen Moment !

Danach ist die ganze Pein des Abends vergessen. Zur dritten Zugabe nach drei Stunden kommen dann Cure-Hits à gogo: Von „Lovecats“ über „Close To Me“ und „Boys Don’t Cry“ zu den Urknallern von „Three Imaginary Boys“, „10.15 Saturday Night“, „Fire in Cairo“ und „Killing in Arab“. Mein Gott, was will man mehr? Und wieder kommt er zu uns Ausgestoßenen an den Rändern, und so endet dieser Abend, wie jedes Cure-Konzert mit dem Gedanken: „Du guter dicker Junge, du liebes schwarzes Wollknäuel von feiner Mensch, du sollst immer so weiter machen!“