: Melancholie kann so ergiebig sein
Die „Ars melancholiae“ von Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola zelebrieren Rituale der Trauer im Radialsystem. Mit dem Stück beginnt die Kooperation mit einem Sponsor, der Sasha Waltz & Guests den Ausbau ihres Programms ermöglicht
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Die Welt der Melancholie ist dunkel und feucht. In der antiken Lehre von den vier Temperamenten ist ihr die schwarze Galle zugeordnet. In der „Ars melancholiae“, die der Tänzer, Musiker und Choreograf Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola im Radialsystem heraufbeschwört, ist die Bühne zwar mit weißen Plastikplanen zugedeckt, doch schon sehr bald läuft tintenschwarze Farbe den vier Tänzer- und SängerInnen aus dem Mund. Mit schnappenden, zappelnden Gliedern, die Beine fortgeschleudert, den Torso umgerissen, verfallen sie in eine Szene des Wahnsinns. Dass Melancholie lange als pathologischer Befund und als Krankheit galt, die einen aus der Gesellschaft und der Welt katapultierte, erinnert das Stück so schon zu Beginn.
Dass einer von ihnen, Luc Dunberry, dabei auf der Strecke bleibt, passt sehr gut. Bietet es doch schönsten Anlass für eine Szene der Aufbahrung und Rituale der Trauer. Cora Frost und Juan selbst stehen an seiner Bahre, tasten ihn mit der Leuchtstoffröhre ab, werfen ein Tuch über ihn. Und so wird, begleitet von sehr sakral anmutenden Gesängen, was eben noch wie ein Krankheitsanfall zu Raserei und Selbstzerstörung führte, nun in einer fast genussvollen Schwermut zelebriert. Schwarze Roben, schwer von Rüschen und Volants, gehören dazu.
Melancholie ist ergiebig. Sie bietet Anlass für die ganz großen Gesten in der „Ars melancholiae“. Ihr Pathos habe ihn schon immer angezogen, erzählt Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, der seit 1996 mit Sasha Waltz zusammenarbeitet. Beschäftigt hatte er sich mit ihr schon in seinem letzten Stück „4 Elemente, 4 Jahreszeiten“: Das war eine ganz ungewöhnliche Partitur der Bewegung für die Musiker der Akademie für Alte Musik, die den Formelementen der Kompositionen von Antonio Vivaldi und Jean-Féry Rebel plastische Gestalt verlieh. Zeitliche Strecken wurden in räumliche Wege übersetzt, die Körper der Instrumente auch als körperliche Partner der Musiker ins Spiel gebracht und akustischen Strukturen eine ungewohnte Sichtbarkeit verliehen. Mit diesem Stück wurde Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola zu vielen Festivals eingeladen.
Auch die Musik von „Ars melancholiae“, zum größten Teil von den Performern gesungen, klingt alt, erinnert an liturgische Formen und polyphone Gesänge des Mittelalters, stammt aber vom Choreografen selbst. Ihre Anmutung passt zu der barocken Feierlichkeit und den theatralischen Gesten der Melancholie, die sich hier doch weniger versunken und mehr extrovertiert zeigt. Von den Liedtexten allerdings, die von sehr illustren Poeten wie Shakespeare, Baudelaire, Virginia Woolf und Rilke stammen, ist nur sehr wenig zu verstehen und das stört auf die Dauer doch. Sie wirken so mehr wie die Behauptung, dass sich das Stück durch ein mit tiefen Gedanken und tiefen Gefühlen über Jahrhunderte gesättigtes Feld bewegt, während das, was man sieht, doch eher verspielt, illustrativ und anekdotisch wirkt.
„Ars melancholiae“ ist die erste Produktion aus dem Programm „Choreographen der Zukunft“, für das die Compagnie Sasha Waltz & Guests neben der Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds die dreijährige Unterstützung eines Sponsors, der BASF, gewonnen hat. Für deren Kulturförderung, bisher vor allem in Ludwigshafen aktiv, ist es der erste Hauptstadtauftritt. Mit Sasha Waltz haben sie sich eine weit über Berlin hinaus bekannte Künstlerin ausgesucht, die sie gleichwohl in dem Bemühen unterstützen, mehr als nur ihre Handschrift im Repertoire der Compagnie zu haben. Sowohl das Radialsystem als Veranstaltungsort wie die Compagnie Sasha Waltz & Guests brauchen langfristig solche Kooperationen, nicht nur um Stücke zu entwickeln, sondern auch im Programm halten und weiter aufführen zu können. Bisher gibt es in Berlin kaum Modelle für solche Finanzierungen und kaum Erfahrung mit den Nebenwirkungen des Imagetransfers. Eine Ausnahme ist die Unterstützung der Neuköllner Oper durch die Gasag seit 1997.
Für das Stück „Ars melancholiae“ bedeutet das zunächst einmal nur, dass es möglich wurde und das Programmheft einen kleinen Aufdruck mehr enthält. Für die Künstler heißt es, dass sie ein paar Essen mehr mit Presseagenten, Sponsoren und Journalisten unter ihre Termine eintragen und über ihre Stücke reden müssen. Für den Zuschauer, dass allmählich ein paar Produktionen mehr im Spielplan stehen.
Erst Ende letzten Jahres nahm die Compagnie die inzwischen 15 Jahre alte Trilogie „Travelogue“ wieder auf, mit der sie ihren Ruf begründet hat. Seit sie mit einer jüngeren Generation von Tänzern neu einstudiert wurde, steht sie nun öfter im Programm und kann sich eines Publikums immer sicher sein. Eine solche Strategie, ihr Repertoire zu erhalten und zu nutzen, ist ebenfalls neu für Sasha Waltz & Guests.
„Ars melancholiae“, wieder am 23. und 24. Februar im Radialsystem, 20 Uhr „Travelogue I, Twenty to eight“, wieder 21.–24. März, 10.–13. April