Wenn Mami einen Neuen hat

Trotz, Streit, Rückzug: Kinder rebellieren oft, wenn getrennte Eltern einen neuen Partner haben. Sie wollen keine Veränderung in ihrem Leben, denn sie raubt ihnen die nötige Sicherheit. Wichtig ist, ihre Verzweiflung ernst zu nehmen, sagen Psychologen

VON JUTTA SCHULKE

Phillip war acht Jahre alt, als seine Mutter sich neu verliebte. Ein Jahr später bedeutete ihr Glück für den Sohn: Leben mit Mama, der sieben Jahre alten Schwester und Christian, dem „Neuen“ – jeden Tag. Leben mit Papa nur noch an jedem zweiten Wochenende, 300 Kilometer weit entfernt. Schlafstörungen, Nachlassen der Aufmerksamkeit in der Schule, Verschlossenheit – die Nähte der jungen Patchworkfamilie drohten nicht nur einmal an der versteckten Rebellion des Jungen zu reißen. Gespräche mit einem Kindertherapeuten sowie Christians beständiges Angebot, nicht mehr und nicht weniger als sein Freund sein zu wollen, konnten die filigranen Fäden dieses Musters im ersten Jahr zu einem festen Garn verweben. Sieben Jahre später nimmt dieser Faden – mal locker und gerade, dann wieder im Zickzack und zum Zerreißen gespannt – in der Familie weiter seinen Lauf.

Knapp neun Millionen Familien leben in Deutschland. Der Anteil an alternativen Familien, wie das Statistische Bundesamt Lebensgemeinschaften und allein erziehende Mütter und Väter mit minderjährigen Kindern nennt, nimmt stetig zu. In den vergangenen zehn Jahren wuchs ihre Zahl um 30 Prozent auf etwa zweieinhalb Millionen, gleichzeitig ging die Zahl traditioneller Familien um 16 Prozent auf sechseinhalb Millionen zurück.

In Berlin lebt mittlerweile knapp die Hälfte aller Familien in alternativen Formen. Allein im Bezirk Friedrichhain-Kreuzberg entschließen sich jedes Jahr rund tausend Familien, die Familien- und Erziehungsberatung des Bezirksamts in Anspruch zu nehmen. „Davon lebt kaum eine Familie in der Urform zusammen“, berichtet die dort tätige Psychotherapeutin Barbara Engel. Sie begegnet der Rebellion im neuen Familienglück tagtäglich: „Kinder im Schulkindalter fahren dann viele Verhaltensauffälligkeiten auf – sie werden trotzig, motzig, verschlechtern sich in der Schule. All das sind hilflose Versuche, auf sich aufmerksam zu machen. Die Kinder wollen die Welt wieder so herstellen, wie sie einmal war, denn sie können sich nicht mehr sicher sein.“ Die 57-Jährige berät seit achtzehn Jahren Eltern und Kinder, die in Krisenzeiten Hilfe suchen.

Wie heftig die Reaktion auf den neuen Partner ausfalle, hänge auch davon ab, wie lange die Eltern bereits getrennt seien: „Kinder, die seit mehr als einem Jahr allein mit einem Elternteil gelebt haben, bekommen unbewusst eine Partnerschaftsrolle zugeschrieben. Sie sind Gesprächspartner, manche schlafen auch zusammen in einem Bett.“ Da könne sich jeder leicht vorstellen, was passiere, wenn ein „richtiger“ Partner komme. Das Kind sei verzweifelt, weil es sich entmachtet und hintangestellt fühle, erklärt die Psychologin. Wer vor dem Spagat zwischen Verständnis für den Nachwuchs und dem Verliebtsein nicht kapitulieren will, kann allen Beteiligten die neue Situation erleichtern. „Das Wichtigste: Nehmen Sie das Kind in seiner Verzweiflung wahr. Die gemeinsame Zeit darf ihm nicht genommen werden. Planen Sie von Anfang an bestimmte Stunden ein, die Sie weiterhin nur für Ihr Kind da sind“, rät Engel. Sie betont, dass der neue Partner sich nicht zu sehr einmischen sollte: „Er darf sich nicht aufspielen, als sei er jetzt derjenige, der sagt, wo es langgeht“, warnt die Therapeutin. Versuche, sich dem argwöhnischen Nachwuchs – zum Beispiel durch gemeinsame Unternehmungen – allein freundschaftlich zu nähern, hält sie dagegen für eine sehr gute Sache, aber in jeder Situation gilt: „Es hat sich bewährt, wenn der neue Partner erzieherisch im Hintergrund bleibt.“

Drohen die Nähte des neuen Patchworkgeflechts zu reißen, kann eine Familien- und Erziehungsberatung in vielen Fällen helfen. Engels: „Wenn es gelingt, dass alle Beteiligten kommen, dann gibt es in der Regel gute Lösungen.“ Dabei plädiert die Fachfrau dafür, den Kindern zuzuhören, „denn sie können sich ganz klar äußern“. Von Kindern mit einem schwachen Selbstbewusstsein lasse sie sich auch unter vier Augen erzählen, wo die Seele drücke. „Da äußern sie sich eigentlich immer.“

Aber das Leben mit einem neuen Partner eines Elternteils kann auch sehr bereichernd sein, sagt Psychotherapeutin Engel. „Die Kinder bekommen statt Streit wieder die positive Kraft in einer Familie mit. Viele finden es toll, dass sie jetzt ‚zwei Väter‘ haben, und genießen die Zuneigung.“ Ein neuer Partner bringe immer neue Vorstellungen und Ideen mit. In die Zukunft blickend, mutmaßt Engel: „Ich glaube, dass Menschen aus Patchworkfamilien offener sind für zwischenmenschliche Beziehungen. Tendenziell sind sie eher Teammenschen.“

Phillip, heute fünfzehn, weiß die Qualitäten des nicht mehr neuen „Neuen“ durchaus zu schätzen. Erste Erfahrungen mit Alkohol, Mädchen oder falschen Freunden wünscht er mit Christian allein zu klären. Und schickt Mama raus.