„Die Hitler-Jugend ging vor“

Weil der Schulsenator an der Front war, diktierten während der Nazi-Zeit andere die Hamburger Schulpolitik. Einer von ihnen war Reformpädagoge und wollte eine nationalsozialistische Gesamtschule. Ein anderer wechselte nach 1945 die Identität. Uwe Schmidt hat ein Buch über sie geschrieben

UWE SCHMIDT, 76, war bis 1991 Lehrer und ist heute freier Mitarbeiter der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Schmidt, wie mächtig war der legendäre nationalsozialistische Hamburger Schulsenator Karl Witt wirklich?

Uwe Schmidt: Er war zwar von 1933 bis 1945 Schulsenator, letztlich aber der Schwächste unter den Männern, die während dieser Jahre die Hamburger Schulpolitik bestimmten. Witt, der gleich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten den morgendlichen Hitlergruß, die montägliche Flaggenparade und regelmäßige Wehrübungen anordnete, war ein Opportunist, der sukzessive entmachtet wurde. Weit mächtiger als er war der – ihm zunächst unterstellte – Landesschulrat Wilhelm Schulz. Er war zugleich Führer des Hamburger Nationalsozialistischen Lehrerbunds, nachdem er alle Lehrerorganisationen gleichgeschaltet hatte. Er war bizarrerweise überzeugter Nazi und Reformpädagoge zugleich. Sein Ziel, eine Art nationalsozialistischer Gesamtschule einzuführen, wurde aber vom Reichserziehungsministerium gestoppt. Andererseits ergriff er vehement für die Hitler-Jugend Partei, die sich als Konkurrenz zur Schule verstand und deren Autorität untergrub.

Das heißt?

Die Schulen durften an zwei Tagen wöchentlich keine Hausaufgaben geben, weil HJ-Dienst war. Schulen mussten ihre Klassenreisen anmelden, denn HJ-Termine gingen vor. Und unter Senatsdirektor Albert Henze, dem De-facto-Nachfolger des 1942 erkrankten und aus dem Schulwesen ausgeschiedenen Schulz, hatten die Schulführer der HJ sogar in den regulären Zeugniskonferenzen etwas zu sagen. Bewährung in der HJ zählte im Zweifelsfall mehr als die schulische Leistung.

Hatte die HJ denn so etwas wie ein Bildungsideal?

Nein. Sie propagierte als „Jugend für den Staat“ die Ideologie des Nationalsozialismus, Judenfeindschaft, soldatische Männlichkeit. Sport, Wehr- und Schießübungen wurden wichtiger. Zentrales Instrument der Nazis war außerdem die Lagerschulung – für Lehrer, Jugendliche, Arbeiter gleichermaßen. Die Devise lautete: Nationalsozialist wird man im Lager und durch die Kolonne. Denn dort kann man den Menschen ent-individualisieren und indoktrinieren.

Die Lehrer wurden auf diese Schulungen verpflichtet?

Ab 1935 ja. Denn Reichserziehungsminister Bernhard Rust hatte 1934 verkündet, dass der Lehrerstand der „Überholung“ bedürfe. Auch der Hamburger Schulsenator Karl Witt fand, dass „die gegenwärtige Lehrergeneration nicht geeignet“ sei, den Nationalsozialismus aufzubauen. „Wir müssen eine neue Lehrergeneration schaffen“, sagte er öffentlich. Ab 1937 wurde zudem erwartet, dass man in die Partei eintrat. Dem verweigerten sich nur einige wenige Widerständige.

Was passierte denen?

Merkwürdigerweise nichts. Nur den Schulrat Gustav Schmidt hat Senatsdirektor Albert Henze 1942 entlassen, weil er nicht in die NSDAP eintreten wollte.

Henze führte ein strikteres Regiment als sein Vorgänger?

Entschieden. Seine Geschichte habe ich großenteils neu erforscht. Er war – ohne Rücksicht auf Schulsenator Karl Witt, der sich 1942 an die Front gemeldet hatte und bis 1945 nicht präsent war – vom Hamburger Reichsstatthalter Karl Kaufmann an die Spitze der Hamburger Schulverwaltung katapultiert worden. Henze ließ Schulräte und Lehrer bespitzeln und verfolgte massiv die Swing-Jugend – junge Leute, die sich zu amerikanischer Musik amüsierten, aber völlig unpolitisch waren. 1945 wurde Henze für drei Jahre interniert, dann aber im Rahmen der Entnazifizierung von der Spruchkammer nur zu einer Geldstrafe verurteilt, die durch die Internierung als abgebüßt galt. In Lübeck hat er dann 22 Jahre an der Oberschule zum Dom unterrichtet.

Niemand fragte nach seiner Vergangenheit?

Anscheinend nicht. Jedenfalls wurde das dem Kulturministerium erst nachträglich gemeldet. Dort hieß es nur lapidar, dass man solche Dinge beim nächsten Mal gern vorher erführe. Das war alles. Zum 65. Geburtstag wurde Henze in der Schulzeitschrift als aufrechter Mensch belobigt, dem Hamburg während des Dritten Reichs übel mitgespielt habe. Er stellte in seiner Lebensbilanz seine Familie sogar als Nazi-Opfer dar. Das stimmt definitiv nicht.

Woran wurde der „ nationalsozialistische Erfolg“ der Hamburger Schulverwaltung eigentlich gemessen?

Sie war dem Reichsstatthalter untergeordnet. Effektivität allerdings wurde schlicht unterstellt und drückte sich vor allem in Aktionismus aus. In den Schulen mussten ständig nationalsozialistische Feiertage abgehalten werden. Wilhelm Schulz und seine Helfer, aber auch andere Gliederungen der Partei veranstalteten Schulungen für Lehrer aller Fächer und Schultypen sowie Versammlungen des Nationalsozialistischen Lehrerbundes im Hamburger Curio-Haus. Wobei Schulz auch hier eine schillernde Figur war. Denn bis 1935 hat er, der überzeugte Nazi, noch zugelassen, dass auch jüdische Veranstaltungen im Curio-Haus, das der Lehrerbund übernommen hatte, stattfanden. Er ist dann denunziert worden, und erst unter diesem Druck begann er die Juden hinauszuwerfen.

Der Band „Nationalsozialistische Schulverwaltung in Hamburg“ wird Freitag, 18 Uhr in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek vorgestellt.