Nichts fährt – alles geht

Seit Tagen steht der Verkehr in Deutschland still, es wird gestreikt. Die Menschen müssen sich umorientieren, wer nicht mobil ist, muss laufen. Bekommt uns der Streik eigentlich gut oder nicht?

ja

Die Aussichten während des Streiks sind schön. Das gelähmte Berlin erwacht zu neuem Leben, drosselt sein Tempo und huldigt endlich seinen Bürgersteigen. Jene Bürger, die weder Fahrrad noch Auto besitzen, müssen laufen. Zur Arbeit, zum Arzt, zur Verabredung, zum Amt – und dann wieder nach Hause. Der Weg ist zuweilen weit, die Strecken lang, der Atem kurz. Aus der gegenwärtigen Not aber wird eine Tugend: Erstaunlich viele Menschen flanieren gemütlich, scheinen den Ausnahmezustand als guten Grund zur Verspätung hinzunehmen – eine Nation erteilt der Hektik eine Absage und erprobt die Entschleunigung.

Auf dem Bürgersteig treffen Mütter mit Kinderwagen – vereinzelt auch Väter – auf herausgeputzte Karrieristen, ältere Generationen mit beschwerlichem Gang auf quengelnde Kinder. Die beiden schicken Geschäftsherren vor mir, die sich wichtig mit ihren Aktenkoffern gegenseitig zunicken, reagieren auf meine Frage irritiert: „Wie, zu spät? Wir arbeiten doch gerade. Wir kommen nirgends zu spät. Wir sind selbstständig.“ Schöne heile Welt für jene, die es sich leisten können. Den Touristen gefällt’s besonders, sie beobachten die Einheimischen, die endlich aus ihren Heimen kriechen und die Bürgersteige zur Promenade nutzen. Turnschuhe, oder mindestens flache Schuhe, sind dafür von Vorteil. Einige Damen lassen sich dennoch vom weiten Marsch auf Stelzen nicht abschrecken, und nutzen den Laufsteg.

Gewinner des Streiks sind erst mal die Fußgänger. „Geh zu Fuß, sooft es geht!“ predigt FUSS e. V., der Fachverband Fußverkehr Deutschland. Und die Ernährungswissenschaftler freuen sich ebenso: Je länger der Streik dauert, desto mehr gesundet die Bevölkerung.

GINA BUCHER

nein

Kann ein Streik wirklich das Tempo der ständig unter Strom stehenden Leistungsgesellschaft drosseln? Ein Blick auf Berlin zeigt: Nein, in drei Tagen schafft das nicht mal die Gewerkschaft Ver.di. Die Menschenmassen schieben sich Ellenbogen an Ellenbogen und setzen diese auch gerne ein. An der Friedrichstraße lotsen Polizisten gestresste Passanten durch Engpässe, um Ausschreitungen zu vermeiden – Hektik macht aggressiv.

Kein Wunder: Streiken ist ein Privileg, in dessen Genuss nur gewerkschaftlich organisierte Angestellte kommen. Arbeiter ohne Tarifvertrag können nicht mitmachen, dafür aber infolge streikbedingter Verspätungen ihren Job verlieren.

Ein hartes Los ist der Streik für modebewusste Damen: Wegen der verlängerten Fußwege sind hohe Absätze ein echtes No-Go. Zugegebenermaßen – es gibt Schlimmeres. Eine Freude fürs Auge des gleichfalls zum Laufen verdammten Betrachters sind die Alternativen aber wahrlich nicht: ausgelatschte Turnschuhe oder Gummistiefel, die derzeit aus unerfindlichen Gründen ein modisches Revival erleben.

In Krisenzeiten neigt der Mensch dazu, die gesellschaftlich Schwachen zu ignorieren. Schon mal darüber nachgedacht, wie Gehbehinderte ohne Bus und Bahn von A nach B kommen? Hat ja nicht jeder so ein tolles Hand-Fahrrad wie der Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble.

Schön, dass die Deutschen in Bewegung geraten. Aber alles hat seinen Preis: Die Bürger müssen jetzt laufen, Rad fahren oder mit dem Taxifahrer quatschen, statt in der Bahn fleißig die Zeitung oder wenigstens Harry Potter zu studieren. Ergo: Der Streik senkt das bundesdeutsche Bildungsniveau, um das es ohnehin besser bestellt sein könnte.

NELE JENSCH