: Ein Beatle, ein Ball und ein feiger Hund
F. C. Delius dehnt eine Minute mit Paul McCartney zu einem unendlichen Augenblick. Ein Hörbuch mit 66 Variationen, das die Wahrheit zur Stilfrage erklärt
Es hätte sein können, vielleicht ist es passiert, und wenn nicht, so bleibt es immer noch eine schöne Geschichte. Angenommen, Friedrich Christian Delius sei im März 1967, zusammen mit einem Freund, in London einem Beatle begegnet. Sie spielten gerade Fußball im noblen Regent’s Park, als Paul McCartney seinen Hund ausführte – just an dem Tag, als „Getting better“ für die LP „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ aufgenommen wurde. „Don’t be afraid, she is a coward“, ruft er den deutschen Studenten beruhigend zu, als der Bobtail auf den Ball zurast. Die rätseln über die Bedeutung dieser Worte und erkennen den Musiker erst, als er von einer Meute johlender Mädchen verfolgt wird.
So banal lässt sich diese Episode erzählen. Unterhaltsamere Varianten entwirft der Autor in „Die Minute mit Paul McCartney“, erschienen 2005 im Transit Verlag. Eine Auswahl dieser „Memo-Arien“, die den Vorfall 66-mal variieren, hat er nun für ein Hörbuch eingesprochen. Ein Beatle, ein Ball und ein angeblich feiger Hund – Delius verfeinert, verdreht und verschwurbelt diese Bestandteile so genüsslich, dass man sich gerne eine gute Stunde lang dieselbe Geschichte erzählen lässt. Angefangen mit einer merkwürdigen Zeitungsmeldung, deren Inhalt sich je nach Stil und Perspektive verändert. Mal kommt der beleidigte Hund zu Wort, der juristisch gegen die Bezeichnung „Feigling“ protestiert, mal deutet Freud, mal spricht der Zen-Meister, dann wird Paul mit seinem Bobtail durch eine Übersetzungsmaschine von Google gejagt. Ein Beatle-Fan analysiert den Vorfall weltverschwörungstheoretisch, und alles erscheint als kausale Verkettung von historisch bedeutsamen Ereignissen. Der eine Moment, mehrfach belichtet, wird zum Ursprung der Studentenrevolte stilisiert, zur Schlüsselszene eines ganzen Jahrhunderts. Mindestens.
Delius legt sich mit seinem Wortwitz in die Kurve, liest die Arien locker, ironisch, sportlich und, ein Höhepunkt, als lakonische Regieanweisung für eine Volksbühnen-Komödie. Erster Akt: „Vom Schnürboden ein Trapez mit Lucie. Sie schaukelt, beleuchtet vom schnell wechselnden, grellen Pastellfarben. Lucie singt Yellow Submarine. Wenn beim letzten Zuschauer die Assoziation von Swinging London angekommen ist, setzt MG-Feuer ein, Vietnam-Sound, Lucie stürzt vom Trapez und verwandelt sich in eine Fußballspielerin.“ Sir Paul tritt als Schiedsrichter auf, man spielt ohne Ball, ein Hundeschlittengespann mit der kommunistischen Standarte Alaskas rast über die Bühne. Nach Wagners Walküre und allgemeiner Kopulation erhält ein schlafender Zuschauer den Lonely-Hearts-Orden. Ende des letzten Akts, „es regnet Bälle“.
Da fühlt man sich den Surrealisten wieder sehr nahe, von denen die Idee solcher Stilübungen ursprünglich stammt; schon 1947 spielte der französische Autor Raymond Queneau eine Szene in einem Autobus in 99 Snapshots durch. Ob Delius nun Castorf mag oder nicht, wie er sprachliche Muster und die daran gekoppelten Denkweisen vorführt, bis sich die Wahrheit im englischen Rasen verflüchtigt, macht Spaß und einmal mehr klar: Es gibt keine Sprache jenseits des Stils; die Welt ist nur so gut, wie sie erzählt wird.
IRENE GRÜTER
Friedrich Christian Delius: „Die Minute mit Paul McCartney“. Kunstmann, München 2008, 70 Minuten, 14,90 Euro