: Die Moleküle des Berlinseins
Die Nachfahrin der Viktoria moderiert heute in Brandenburg: Gerade mit unnützem Wissen erfreut der Lesebühnenliterat und gebürtige Berliner Falko Hennig in seinem Buch „100 % Berlin“
Eigentlich hätte es eine 1.000-prozentige Berlin-Enzyklopädie in zwanzig Bänden werden sollen, in Leder gebunden und mit Goldschnitt. Doch das, schreibt Autor Falko Hennig im Vorwort seines Buches „100 % Berlin“, wollte die Lektorin aus unerfindlichen Gründen nicht. Dafür einen auf ein Zehntel geschrumpften Bildband mit kurzen Textblöcken. Dieser gleicht nach Meinung des Verfassers methodologisch dem „Versuch, mit der Beschreibung eines Atoms aus Marilyn Monroes Körper ein Bild ihrer Schönheit zu vermitteln“. Zum Glück. Denn die auf luftigen 128 Seiten hingeschnodderte Skizze ist eine äußerst amüsante Art, sich Berlin zu nähern. Und angemessener als eine Schweinslederschwarte.
In knapp hundert alphabetisch geordneten Stichworten wird von „Achthundert Jahre Aufschwung“ bis „Zoo der Kuscheltiere“ alles verhandelt, was die Stadt bewegt. Der salopp-spöttelnde Ton verrät, wo der Autor literarisch beheimatet ist: im literarischen Untergrund. Falko Hennig stieß 1995 zur Reformbühne Heim & Welt, seitdem ist er Teil des regen Lesebühnenwesens an der Spree und hat mit „Radio Hochsee“ seine eigene Show. Außerdem ist er Gründer der Charles Bukowski Gesellschaft – und gebürtiger Berliner. Das alles qualifiziert ihn bestens, um zum Beispiel über die Akademie der Künste zu schreiben, wo er 1989 als Pförtner der Ostfiliale eine ruhige Kugel schob. Oder über die orange gekleideten Müllmänner, die als „Könige von Berlin“ mit ausgefeilten Krachchoreografien die Stadt am Ausschlafen hindern.
„B“ wie „Bankenskandal“, „J“ wie „Juhnke, Harald“, „R“ wie „Rap und Hiphop“: Es liegt am ganz speziellen Blick des Lesepoeten und Ostberliners Hennig und des tip-Fotografen Harry Schnitger, dass sich „100 Prozent Berlin“ so wohltuend von all den Büchlein unterscheidet, die zeigen wollen, wie „hip“ Berlin ist. Das „Hippe“ handeln die beiden in einem bösen kleinen Eintrag ab und erklären sich für nicht zuständig. Ansonsten scheuen sie weder das Profane noch das Touristische: Neben Fernsehturm und Mauer werden Zeitgeistphänomene wie Townhouses, Strandbars und der Kinderreichtum in Prenzlauer Berg gestreift und wird nebenbei die Geschichte der großen Bahnhöfe erzählt.
Gerade das unnütze Wissen verblüfft: Wer weiß schon, dass die Moderatorin von „Brandenburg Aktuell“ der Viktoria auf der Quadriga sehr ähnelt und tatsächlich eine Nachfahrin des echten „Viktoria“-Modells ist? Oder dass Männer am Strandbad Wannsee noch 1932 gezwungen waren, Einlagen in der Badehose zu tragen, damit ihre Geschlechtsteile nicht hervortreten? Sogar die Kurzporträts von klischeebelasteten Bezirken bergen Überraschungen: Der Eintrag „Prenzlauer Berg“ kommt ohne Foto von hübsch gekleideten Menschen in Cafés aus. Dafür gibt’s persönliche Jugendanekdoten des ehemaligen Ostpunks aus Kneipen mit Namen wie „Hackepeter“ und „Schusterjungen“.
Bei so viel Originalität kann man Autor und Fotograf verzeihen, dass sie sich selbst und ihren Kumpels aus der Lesebühnenszene ziemlich viel Platz einräumen. Schließlich gehört das Protzige zum Berliner dazu wie die Currywurst und der Mangel an Modebewusstsein. Sollte Falko Hennig bei der Buchvorstellung sein im Eintrag „Mode“ beschriebenes „mit Diamantstaub veredelte Jackett“ tragen, wird Fotograf Schnitger wahrscheinlich mit „Mundart“ kontern: „Ick muss sagen, siehst richtich schnieke aus, Keule.“ Das wäre dann wirklich hundert Prozent Berlin. NINA APIN
Falko Hennig: „100 % Berlin – Was drin ist, was dran ist, was in ist“. Knesebeck, 128 Seiten, 14,59 € Lesungen: 18. März in Lehmanns Fachbuchhandlung, Hardenbergstr. 5, 20.15 Uhr, 19. März in der Backfabrik Literatur Station, Saarbrücker Str. 37, 20 Uhr