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Archiv-Artikel

Mangas von ganz früher

„Ukiyo-e“ heißen Holzschnitte auf Japanisch, wörtlich übersetzt etwa: Bilder der fließenden Welt. Eine großartige Sammlung ist nun in Berlin zu sehen: eine Welt des Luxus, der Moden und des Lasters

VON RONALD BERG

Die Reise führt durch das Japan des frühen 19. Jahrhunderts. In 54 Stationen begegnen wir Land und Leuten: Der Blick geht auf den in der Ferne thronenden Fuji mit harkenden Bauern im Vordergrund, auf harpunierende Fischer vor der Küste, oder man sieht einen Reisenden, der seinem Pferd die Hufe wäscht. All diese alltäglichen Szenen zeigt uns der berühmte Katsushika Hokusai (1760–1849) in seiner Holzschnittserie über den Tokaido. Diese 488 Kilometer lange Straße verläuft vorbei an Tempeln, Herbergen, Tee- und Badehäusern durch eine pittoreske Landschaft. Der Tokaido war während Japans Blüte- und Friedensperiode zur Edo-Zeit von 1603 bis 1867 der wichtigste Verkehrsweg Japans.

Hokusais Bilderserie gehört zum Gastspiel der Bremer Kunsthalle im Kunstforum der Berliner Volksbank an der Budapester Straße. Die Schau zeigt mit weit über 100 Motiven einen Querschnitt durch eine der weltweit besten Sammlungen zur Holzschnittkunst aus dem alten Japan, Japan selbst eingeschlossen.

In der Handelsmetropole Edo, dem heutigen Tokio, lebten um 1700 bereits eine Million Menschen. Die zu Reichtum und Wohlstand gelangten Kaufleute, Händler und Handwerker waren die Klientel der im 18. Jahrhundert aufblühenden Holzschnittkunst. Diese reproduzierten Blätter – im Unterschied zu den Kalligrafien und Tuschmalereien, die Hof und Adelsgesellschaft bevorzugten – zeigen bürgerliche Kultur und bürgerlichen Geschmack. Beliebt waren Szenen aus dem Kabuki-Theater und Porträts der dort auftretenden Schauspieler. Kabuki ist ein ziemlich derbes Volkstheater, und die Mimen auf den Blättern haben oft auch etwas Groteskes; sie grimassieren mit verdrehten Augen und zücken im Zustand äußerster Erregung das Schwert. So konterfeite etwa Tôshûsai Sharaku die Schauspieler. In Hokusais Gespenstergesichten geht es noch grotesker und sogar schaurig zu: Es gibt Monster, die mit blutigen Kindsköpfen hantieren; auch Wahnvisionen, bei denen sich Lampions in Furcht einflößende Fratzen verwandeln, gehören zum Repertoire.

Als der junge Kunsthistoriker Friedrich Perzynski 1905 nach Japan reiste, um im Auftrag des Direktors des Norddeutschen Lloyd Holzschnitte zu erwerben, war von der blühenden Kultur dieser genuin japanischen Kunstgattung durch den Einfluss westlicher Kultur allerdings wenig übrig. Immerhin fand er hunderte von Blättern, die noch etwas von der Virtuosität und Qualität hatten, die den Japonismus seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts im Westen zur Mode gemacht hatten. Diese sollten zum Grundstock der Bremer Sammlung werden. Auf Japanisch heißt das Genre solcher Holzschnitte ukiyo-e, etwa „Bilder der fließenden Welt“, einer Welt der Vergnügungen, des Luxus, der Moden und des Lasters. Kurtisanen, Bordelle, Sumo-Arenen sind häufige Motive.

In Japan galten die Blätter seinerzeit nicht als Kunst, sondern als Handwerksprodukte, von denen eine ganze Industrie lebte, in der Verleger, Entwerfer bzw. Maler und Holzschneider einen Massenmarkt bedienten. Nicht nur in dieser Hinsicht sind die Holzschnitte des ukiyo-e Vorläufer der Mangas. Bereits eine in 15 Bänden veröffentlichte Skizzensammlung von Hokusai vom Anfang des 19. Jahrhunderts trug diesen Namen.

Die frühesten Arbeiten im Kunstforum datieren zurück auf das Jahr 1740. Eines der seltenen, perspektivisch angelegten Großformate zeigt die Innenansicht eines Kabuki-Theaters. Die rückwärtige Bühne mit den Schauspielern und den daneben postierten Musikern ist umgeben von voll besetzten Logen- und den Parkettplätzen. Die bunt gewandete Menge in ihren schön gemusterten Kimonos, die Herren mit Schwert und blank rasiertem Schädeldach bieten einen Blick auf die damalige Gesellschaft.

Die meisten Blätter der Schau faszinieren durch die Delikatesse ihrer Ausführung; wie die feinen Haarsträhnen der Frauen gegen die flächigen Ornamente der Kimonos stehen, wie die kurvige Linienführung in den Gewändern mit den Stoffmustern zusammenspielt oder wie die erzählten Geschichten in die Komposition umgesetzt wurden. Allerdings wird der Japan-Laie von der Ironie und dem historischen Stoff vieler der Bilder wohl wenig mitbekommen, da selbst im Katalog über die Inhalte kaum ein Wort verloren wird. So entgeht einem dann auch, dass die seltsame Waschung eines Textblatts eine bekannte Geschichte über die Dichterin Ono no Komachi aus dem japanischen Mittelalter illustriert. Die Poetin deckte dadurch eine gegen sie gerichtete Intrige auf.

Dass weder das Waschbecken noch die Kleidung oder die aufgekrempelten Ärmel mit der mittelalterlich-höfischen Welt vereinbar sind und wir es hier mit der ironischen Karikatur einer Edelfrau als geschäftiger Hausfrau zu tun haben, wird wohl nur wenigen auffallen.

Bis 25. Mai. Kunstforum Berliner Volksbank, Budapester Str. 35, täglich 10–18 Uhr (am 9. 4. geschlossen)