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Archiv-Artikel

„Eine Tür geht auf“

Die 87-jährige Margot Friedlander hat die nationalsozialistische Diktatur im Untergrund überlebt. Sie erzählt die ergreifende Geschichte ihres Lebens, das Deutsche zerstört und Deutsche gerettet haben

VON KLAUS HARPPRECHT

Bücher wie dieses lassen uns plötzlich begreifen, dass wir auf unseren täglichen Wegen in Berlin und Warschau, in Rotterdam und München über versunkene Städte laufen, über Schichten von Schutt – Kilometer für Kilometer – und manchmal einen überwachsenen Trümmerberg besteigen. Sie lassen uns ahnen, dass wir abertausend verschüttete Leben unter die Füße nehmen, die sich da und dort durch einen Namen auf einem Pflasterstein signalisieren. Abertausend Schicksale, die sich durch nichts mehr zu erkennen geben. Zeitgeschichte – und zugleich Archäologie. Nein, kein Pompeji-Idyll unter unseren Schuhen. Eher: ein Karthago, vor sechzig Jahren zugrunde gegangen. Noch scharren wir nicht nach Scherben. Noch graben wir keine Säulen und Statuen aus.

Es sind einstweilen Bücher, die in die Schächte der Ruinen-, der Horror-, der Totenwelt hinableuchten. Wie das von Margot Friedlander. Sie ist eine der wenigen Überlebenden, die sich damals in den Winkel und Höhlen des Berliner „Untergrunds“ verborgen hielten: eine von geschätzten zehn- bis zwölftausend Juden, die in der Illegalität der Deportation zu entkommen versuchten. Etwa dreitausend kamen durch. Die Eltern, die Vorfahren waren Kaufleute, zugewandert aus Ungarn und Oberschlesien, spätestens seit dem Ersten Weltkrieg integriert, die Männer meist in „des Kaisers Rock“. Offenem Antisemitismus begegnete die Familie nach dem Zeugnis von Margot Friedlander, geborene Bendheim, vor 1933 so gut wie nie.

Trennung der Eltern. Der Vater verschwand nach Belgien. Es blieben die Mutter und zwei Kinder. Chancen der Auswanderung wurden, wie üblich, versäumt – oder sie waren blockiert. Scheiterten am Geld, dessen Rest ein Visumschwindler kassierte. Der Vater verbot die immer noch mögliche Ausreise nach Schanghai, für die es seine Zustimmung brauchte, da die Kinder minderjährig waren: „Verhungern“, schrieb er, „könnt Ihr auch in Berlin.“ Aussichtslos, nach Amerika zu entkommen: die Einwanderungsquoten ließen Menschen, die aus Osteuropa stammten, keine Chance.

Im Reich das schreckliche Crescendo der Diskriminierung, Entrechtung, Entwürdigung. Einweisung in ein sogenanntes Judenhaus. Im Januar 1943 wurde Margot Friedlanders Bruder geholt. Die Mutter folgte ihm. Margot fand ihr Notizbuch und eine knappe Weisung in der Handtasche: „Versuche, dein Leben zu machen“, hatte die Mutter auf einen Zettel gekritzelt. Schuldgefühle. Dennoch entschied sich die junge Frau für die Illegalität.

Bei der ersten Adresse erhielt sie eine demütigende Abfuhr: Tante Anna – Bürgerin der Schweiz und überdies „arischer“ Herkunft – fragte dümmlich genug: „‚Wie soll ich Dir helfen?‘ ‚Ich brauche ein Versteck‘. ‚Wenn Du nicht bereit bist, Deiner Mutter zu helfen‘, sagte Anna, ‚kann ich Dir auch nicht helfen‘. ‚Sie ist bei der Gestapo‘, sagte ich. ‚Wie soll ich ihr denn helfen?‘ ‚Indem du mit ihr gehst‘“. Margot verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort.

Die junge Schriftstellerin Malin Schwerdtfeger, die der alten Dame ihre Feder lieh, hat die peinigende Szene ohne Dramatisierung aufgezeichnet – wie sich das Buch überhaupt durch eine musterhafte Zügelung aller Emotionen und durch eine knappe, nüchterne Sprache auszeichnet. Margot wandert von einer Adresse zur anderen. Sie schläft auf Sofas, in Sesseln, die Hauskatze auf dem Schoß, sie nächtigt auf Autositzen in einer Garage. Tagsüber läuft sie durch die Stadt. Oder sie putzt die Wohnung. Eine der Helferinnen erwartet, dass sie dem Freund sexuelle Dienste leistet. Arbeiterquartiere. In einer Absteige von Asozialen ist die Lagerstatt völlig verwanzt. „Noch am Morgen verschwinde ich. Eine Tür fällt zu, eine andere tut sich auf.“ Ein Chirurg verschafft ihr – kostenlos – eine „arische“ Nase.

Schließlich, nach fast fünfzehn Monaten, wird sie von zwei „Greifern“ gestellt, nicht weit vom Bahnhof Zoo. Sie kann sich nicht ausweisen und gibt, der Rastlosigkeit müde, einfach zu, dass sie Jüdin ist. Auf dem Weg zum Abschiebungsghetto gestehen die beiden, dass auch sie Juden seien, von der Gestapo abgerichtet, „Unterseeboote“ einzufangen: ihr Lohn das Versprechen, sie würden von der Deportation verschont (was nicht immer zutraf).

Unter dreitausend, die im Untergrund überlebten: der unvergessene Hans Rosenthal, der Schauspieler Michael Degen, der Dirigent Konrad Latte, der bilanzierte, dass es etwa fünfzig nichtjüdische Helfer brauchte, damit er durchkommen konnte. Fünfzig Mutige. Fünfzig vielleicht Gerechte. Fünfzig Menschen. Natürlich darf diese Zahl nicht mit dreitausend multipliziert werden, weil es oft dieselben Unerschrockenen waren, die dem einen wie der anderen halfen – etwa der Tegeler Gefängnispfarrer Harald Poelchau. Ob es fünfzig oder hunderttausend waren: auch sie hätten ihr Monument verdient.

Margot Friedlander gelangte auf einen Transport nach Theresienstadt. Dort wurde niemand vergast: nur starben die Insassen langsam am Hunger dahin; und die Geschwächten, die zur Arbeit nicht mehr taugten, wurden nach Auschwitz verladen. Margot aber durfte in einem Außenlager weiches Glimmer-Gestein in Scheiben schneiden: die Rüstungsbetriebe brauchten es als Isolationsmaterial.

Sie war Zeugin, als ein Filmteam die Fortsetzung des Propagandaschmarrens „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ mit der Theatertruppe des Lagers drehte. Sie beobachtete die Drapierung einiger Baracken für eine Visite des Roten Kreuzes. Im September 1944 begann die SS, das Lager zu räumen. Von fast dreißigtausend Häftlingen entgingen nur elftausend der Verschickung nach Auschwitz. Typhus ging um. Eine Ewigkeit, bis am 5. Mai 1945 der letzte SS-Trupp abzog. Sie lernte unter den Überlebenden ihren Mann kennen. Ein weiteres Jahr des Wartens in den Lagern der „Displaced Persons“. Überfahrt nach New York. Erst 2003 sah sie Berlin wieder. Ein Dokumentarfilm schilderte ihr Geschick und gab die Anregung zu diesem Buch.

„Meine Geschichte“, resümierte Margot Friedlander, „war anders als die der meisten Überlebenden, sie war komplizierter. Deutsche hatten mein Leben zerstört, Deutsche hatten es gerettet …“ In ihrem Innern sei sie staatenlos geblieben: „In meiner Familie hatten wir uns als deutsche Juden, als jüdische Deutsche gefühlt […]. Wir wurden ausgestoßen.“ In ihrer knappen Danksagung bemerkte sie über einen Freund: „Er hat mich durch seine Wärme wieder mit meiner alten Heimat vertraut gemacht.“ Welche Großherzigkeit am Ende dieser schmerzhaften archäologischen Exkursion. Wir beziehen die Koautorin Malin Schwerdtfeger in die Danksagung ein: Sie hat für das Geschick von Margot Friedlander eine gute Sprache gefunden.

Margot Friedlander mit Malin Schwerdtfeger: „,Versuche, dein Leben zu machen.‘ Als Jüdin versteckt in Berlin“. Rowohlt Berlin, Berlin 2008, 268 Seiten, 19,90 Euro