Ochsen ziehen vorüber

Manchmal fühlt sich die Welt nach einem Kinobesuch an, als sei sie eine andere geworden. „Re-Imagining Asia“, eine Filmreihe im Haus der Kulturen der Welt, könnte diese Erfahrung ermöglichen – mit einem Best-of des jungen asiatischen Kinos

VON SUSANNE MESSMER

Ein Bauer reist mit dem Ochsenkarren in die Stadt, weil er dort seine Waren verkaufen will. Schon zu Beginn des neunstündigen Films „Heremias“ von Lav Diaz, der jetzt in der Filmreihe „Re-Imagining Asia“ im Haus der Kulturen der Welt zu sehen ist, sieht man nichts als eine Kolonne von Ochsenwagen, die sich langsam fortbewegt. Es vergehen zehn Minuten, zwanzig Minuten, und die wenigen Schnitte und vor allem die schiere Masse an Zeit, die man ganz unvertrauter Weise plötzlich hat, zwingen zur Kontemplation des bewegten Himmels, der vorbeiziehenden Bäume am Wegesrand und schließlich zur Beobachtung der endlosen Mühen und Versuche des Bauern, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, als der Regen einsetzt.

So erzählt Lav Diaz, einer der radikalsten philippinischen Filmemacher, in seinem Film „Heremias“ nicht nur vom marginalisierten und bedrohten ländlichen Leben und von Migration, sondern auch von einer persönlichen Odyssee, die einen absolut Arglosen schuldig werden lässt. Es ist, als würde sich die Verzweiflung des Bauern mit jeder Minute, die verrinnt, tiefer in die Empfindung des Betrachters graben – und das ganz ohne die billigen Mittel der Identifikation, die man aus konventionellen Filmen kennt.

Überlange Filme wie dieser, aber auch melancholische Filme mit rätselhaften, mäandernden und wuchernden Plots, die sich gegen jede Zusammenfassung stemmen, oder Filme, in denen fast nicht gesprochen wird: Das ist der ebenso grundfeste wie lebendige Sockel, auf den das Haus der Kulturen der Welt seine neue Filmreihe stützen kann.

Deren These lautet: Nicht alles, was aus Asien kommt, ist irgendwie exotischer, märchenhafter, orientalischer als im sogenannten Abendland – und doch werden dort überraschende Impulse gesetzt, die das Filmemachen weltweit verändern könnten. Im letzten Jahrzehnt hat sich in vielen asiatischen Ländern jenseits der offiziellen, oft eingeschränkten Möglichkeiten eine Szene unabhängiger Filmemacher entwickelt, die dank der preisgünstigen digitalen Techniken mit ungewöhnlichen Formen spielt. So zeigt die Filmreihe im Haus der Kulturen der Welt eine Art Best-of aus dem asiatischen Raum, eine Reihe von Regisseuren, wie sie schon seit einiger Zeit von Filmverrückten auf den Festivals gefeiert werden und viel zu selten den Weg in die Kinos finden.

Neben Lav Diaz’ tagesfüllendem Film sind zwei Arbeiten Fruit Chans aus Hongkong zu sehen, der sich sehr für die Wucht der Exkremente, des Kannibalismus und anderer konkreter Körperlichkeiten interessiert. Von Tsai Ming-Liang kommt „I Don’t Want to Sleep Alone“, einer der schönsten und ruhigsten Filme des Regisseurs aus Taiwan, der von einem obdachlosen Wanderarbeiter aus Bangladesch in Kuala Lumpur erzählt, von surrealen Rohbauruinen, in denen er lebt und die ihn kaum vor dem ätzenden Smog im Moloch der großen Stadt schützen können. Und Apichatpong Weerasethakul aus Thailand, dessen becircend somnambule Filme voller freundlich sanfter Dialoge eine leidenschaftliche Fangemeinde haben, ist mit seinem neuen Film „San Sattawat – Syndromes and a Century“ vertreten.

Auch sind zwei sehr spannende Filme aus der Volksrepublik China zu sehen: Jiang Wens 2000 in Cannes preisgekrönte schwarze Komödie „Devils On The Doorstep“ erzählt von einem chinesischen Dorf während der japanischen Besetzung und von der Problematik von Anpassung, Widerstand und Zivilcourage. Der neue Dokumentarfilm von Wang Bing folgt weiter der Tendenz seiner Filme, immer länger und kompromissloser zu werden: Schon sein dreiteiliger Dokumentarfilm „Tie Xi Qu – West Of The Tracks“ über den Niedergang einer kleinen chinesischen Industriestadt aus dem Jahr 2003 dauerte insgesamt länger als zehn Stunden.

Wang Bings neuer Streich „Fengming, A Chinese Memoir“ hört in fast einer einzigen Einstellung mehr als drei Stunden einer in China bekannten Autorin zu, die von ihrer Verhaftung und von der Ermordung ihres Ehemanns bei den Säuberungen während der Hundert-Blumen-Bewegung Ende der Fünfzigerjahre berichtet. Sie spricht über Gehirnwäsche, Terror und Zerstörung, die sich zu allem Überfluss während der Kulturrevolution 1966 bis 1976 wiederholte. So vertieft ist man in die plastische Erzählung dieser Frau, dass man erst bemerkt, dass das Bild zunehmend dunkler geworden ist, als der Regisseur sie bittet, das Licht anzuschalten: wohl eine der radikalsten „Talking Head“-Dokumentationen, die es je gegeben hat.

Eines zeigen die Filme, die jetzt im Haus der Kulturen der Welt zu sehen sind, ganz sicher: Ein Kinobesuch muss eben nicht immer nur ein Kinobesuch sein, bei dem man mit den Helden schlafen, mit den Helden kämpfen und leiden oder in die Helden hineinschlüpfen will. Ein Kinobesuch kann sich auch wie ein langer Tag auf einer Sommerwiese anfühlen, die Hände hinterm Kopf verschränkt und der Blick in den Wolken. Manchmal zählt man die Minuten, manchmal aber auch verschiebt sich die Wahrnehmung so extrem, dass man am Abend das Gefühl hat, die Welt sei eine andere geworden.

Bis 27. April, Programm unter www.hkw.de