„Der Weltklimarat hat manches unterschätzt“

Langfristig liegen die Nasa-Forscher richtig, glaubt Klimaforscher Stefan Rahmstorf. In 100 Jahren müssen die Emissionen auf null sinken

STEFAN RAHMSTORF, 48, Professor für die Physik der Ozeane am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), war einer der Autoren des Sachstandsberichtes des IPCC.

taz: Der Nasa-Klimaforscher James Hansen plädiert mit seiner neuen Studie für schärfere Klimaschutzziele. Ist die Lage so dramatisch, wie es die Studie vermuten lässt?

Stefan Rahmstorf: Die Botschaft der Studie ist nicht: es ist alles schon zu spät, sondern: Auf Dauer können wir uns die heutige Treibhausgaskonzentration nicht leisten. Wir müssen sie langfristig herunterfahren. Hansen analysiert in der Studie vor allem langsam ablaufende Rückkopplungen, die sich auf das Klima nach dem Jahr 2100 auswirken. Dabei belegt Hansen, wie empfindlich das Klimasystem reagiert.

Was bedeutet das für die Europäische Union? Sind ihre Klimaschutzziele zu optimistisch gerechnet?

Die EU will die globale Erwärmung bei 2 Grad Celsius stoppen und die Emissionen global bis 2050 mindestens halbieren. An diesen Zielen ändert die Studie nichts – es heißt nur, dass wir danach mit dem Klimaschutz weitermachen müssen und im Jahr 2100 möglichst bei Null-Emissionen sind.

Wichtig ist aber, dass dies Mindestanforderungen sind, die nicht mehr aufgeweicht würden.

Hat der Weltklimarat IPCC die realen Auswirkungen des Klimawandels bislang beschönigt?

Der IPCC hat sicher manches eher unterschätzt. Der Meeresspiegel steigt seit Jahrzehnten schneller, als es die IPCC-Modelle erwarten lassen. Die IPCC-Aussagen sind naturgemäß konservativ, weil sie den Konsens einer sehr breiten Mehrheit der Klimaforscher widerspiegeln. James Henson gehört zu den Pessimisten. Allerdings hat er in der Vergangenheit mehrfach Recht gehabt. Deswegen nehme ich die Studie sehr ernst.

Wenn der IPCC die Folgen des Klimawandels so konservativ schätzt: Ist er dann eine Beruhigungspille für die Öffentlichkeit?

Das glaube ich überhaupt nicht.

Die IPCC-Warnungen vor dem Klimawandel sind mehr als deutlich und haben die EU dazu gebracht, strenge Klimaziele zu setzen. Hansen liegt in seiner Einschätzung nicht fundamental anders als der IPCC. Die Unterschiede sind nur graduell.

Hansen stützt sich überwiegend auf empirische Daten aus der Vergangenheit und nicht auf theoretische Modelle wie der IPCC. Ist Hansens Methode nicht überzeugender?

IPCC tut beides – im letzten IPCC-Bericht gibt es ein Kapitel zur Klimageschichte. Dabei neigen dessen Autoren tatsächlich eher zu einer etwas pessimistischeren Einschätzung der Risiken als jene, die vor allem mit Computermodellen arbeiten. Zwischen den Autoren gab es dazu durchaus unterschiedliche Auffassungen.

Neben Hansen fordern auch andere Klimaforscher eine radikale Verringerung der Treibhausgase. Wie kann man die Klimaschutzdiskussion führen, dass man nicht nur an Symptomen herumdoktert?

Das ist keine rein wissenschaftliche Frage. Es ist auch eine politische Frage, wie rasch man Energiesysteme umbauen will. Die Risiken wachsen, je länger wir warten. Nach meiner Überzeugung sollten wir vorausschauend und verantwortungsvoll handeln und mit der konsequenten Verringerung von Treibhausgasen vorsorgen.

Hansen schlägt vor, langfristig aus der Kohleverbrennung auszusteigen. Schießt er damit übers Ziel hinaus?

Ich denke, dass man über solche Optionen offen diskutieren muss. Wir brauchen Klarheit, wie viel Kohleverbrennung wir uns noch leisten können. Wir Klimaforscher können dafür aber keine politischen Umsetzungspläne liefern.

INTERVIEW: TARIK AHMIA