Singen Spielen Denken

Meerschweinchen und Geschichte: Im Magazin der Staatsoper verflochten sich in „Arbeit Nahrung Wohnung“ von Enno Poppe und Marcel Beyer Gesang, Küchengeklapper und „Robinson Crusoe“

VON TIM CASPAR BOEHME

Findet die Zukunft des Musiktheaters jenseits des Orchestergrabens statt? Wenn man Enno Poppes und Marcel Beyers gemeinsames Projekt „Arbeit Nahrung Wohnung“, das am Montag im Magazin der Staatsoper Unter den Linden Premiere hatte, beim Wort nimmt, dann lautet ihre Antwort: Ja.

Sie präsentieren eine „Bühnenmusik für 14 Herren“, die sämtliche Instrumentalisten in das Bühnengeschehen einbezieht. Im Titel spielen Poppe und Beyer auf Martin Heideggers Text „Bauen Wohnen Denken“ an, und elementaren menschlichen Fragen hat sich auch ihre Bühnenmusik verschrieben. Beyers Libretto, das Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ als Vorlage hat, umkreist das Thema des „menschlichen Überlebens“, ohne eine Geschichte im eigentlichen Sinne zu erzählen.

Robinson wird in der ersten Szene von Seeleuten gerettet, um am Ende, anders als in der Romanvorlage, die Einsamkeit zu wählen. Dazu passt, dass Beyer seine Figuren Monologe in stark assoziativen Versen sprechen lässt, bei denen unklar bleibt, ob sie sich an ein Gegenüber richten oder nur Klang gewordene Empfindungen sind. Man meint, einen poetischen Kommentar zu Defoes Roman zu hören, der sich jedoch in umgekehrter Richtung entwickelt und so als Abgesang auf die Gemeinschaft gelesen wird.

Zusammengehalten wird das Stück durch Poppes Musik, die in ihrem Vorandrängen keiner Ergänzung durch Worte bedarf, um Sinn zu ergeben. So ist auch Poppes Äußerung zu verstehen, die Dramaturgie des Abends sei „ganz aus der Musik geboren“. Musik wie Sprache sind in dieser Bühnenmusik zwei Facetten eines bestimmten Klanggeschehens, ohne dass das eine Kommentar des anderen wäre.

Poppe begnügt sich mit einem kleinen Ensemble. Neben den Solisten Graham F. Valentine als Robinson und Omar Ebrahim als Freitag singen die Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Die vier Keyboarder und das Schlagzeugquartett der musikFabrik tragen Naturvollbärte nach Seemannsart. Sänger und Musiker bewegen sich in wechselnden Räumen, die die Regisseurin und Bühnenbildnerin Anna Viebrock durch Fenster verbunden hat, die sich hinter Schiebetafeln verbergen, die eine Klassenzimmeratmosphäre hervorrufen.

Die Musik Poppes pulsiert stets mit einer rhythmischen Spannung, einem Drive, der fast vergessen lässt, wie komplex ihre Konstruktion eigentlich ist. Schon zu Beginn spinnt eine Orgel in immer neuen Anläufen eine Melodie aus winzigen Mikrointervallen, die sich immer virtuoser und schräger gebärden. Schier unglaublich sind die Gesangspartien und -leistungen der Solisten und des Vokalquartetts, die nicht nur Poppes Lust am Experiment, sondern auch eine gewisse Verspieltheit im Umgang mit der menschlichen Stimme zeigen.

Selbst vor Klamauk schreckt Poppe nicht zurück, bis hin zum vierköpfigen Klaviermarathon, der in bester Tischtennismanier als Rundlauf um den Flügel inszeniert wird. Die Spielerei erschließt aber auch neue Formen der Poesie. In einer der schönsten Szenen spricht Robinson einen Monolog, zu dem er die Tage seines Insellebens an eine Tafel kratzt. Freitag antwortet aus der Küche nebenan, während er Essen zubereitet. Nach und nach kommen die Schlagzeuger hinzu, um Freitag bei der Arbeit zu unterstützen, und so bildet sich ein immer dichteres rhythmisches Geflecht aus Sprache, Gesang, Kreidestrichen und Küchengeklapper.

Leider verliert das Stück, eine Koproduktion der Staatsoper mit der Biennale München und dem Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, gegen Ende an Spannung, ausgerechnet in der mit Abstand am lautesten Szene, in der alle Spieler mit Metall wüten. Als auf der Bühne die Gemeinschaft auseinander bricht, macht sich im Publikum die immer hartnäckigere Kälte des Magazins in den Knochen bemerkbar. Robinsons letzte Worte wirken da wie eine poetische Befreiung: „Ich geh vielleicht als Meerschweinchen in die Geschichte ein.“ Ein toller Schlusssatz, der mit der Erschöpfung der vorigen Szene versöhnt.

„Arbeit, Nahrung, Wohnen“. Wieder am 30. April und 1. Mai, 20 Uhr, Magazin der Staatsoper