crime scene : Futter für die Schadenfreude
Was hindert einen normalen Menschen daran, zum Verbrecher zu werden? Im Grunde sehr wenig, wenn man zur Beantwortung dieser Frage zwei argentinische Romane heranzieht, die kürzlich auf Deutsch erschienen sind.
Dank Jorge Luis Borges ist das kriminaleske Element in Argentinien ein etablierter Bestandteil der Literatur, weshalb das Verbrechensthema dort nicht in der Genre-Ecke abgehandelt werden muss, sondern sich mit literarisch anspruchsvoller Form verbinden darf. Eben dieses Spannungsfeld zwischen Literatur und Verbrechen lotet Guillermo Martínez in „Der langsame Tod der Luciana B.“ genussvoll aus. Im Zentrum des Geschehens stehen eine junge Frau und ein berühmter Schriftsteller. Dessen Name lautet in der deutschen Fassung „Kloster“ (es ist anzunehmen, dass es sich um eine wörtliche Übersetzung handelt), was an „Borges“ semantisch ziemlich nahe herankommt. Auch der Icherzähler des Romans ist Schriftsteller. Zu ihm flüchtet sich die junge Luciana vor der, wie sie behauptet, Verfolgung durch den berühmten Kloster. Als Studentin hatte sie zehn Jahre vor Handlungsbeginn als Sekretärin für Kloster gearbeitet, kurzzeitig auch für den Icherzähler, der sie damals als überaus attraktiv empfand. Nun, zehn Jahre später, sind bis auf eine jüngere Schwester sämtliche Angehörigen Lucianas tot: ihr Freund ertrunken bei einem Badeunfall, die Eltern an einer Pilzvergiftung gestorben, der Bruder ermordet von einem Einbrecher. Luciana selbst ist ein Wrack, physisch und psychisch zerstört, und überzeugt davon, dass Kloster hinter den Todesfällen steckt. Denn einst hatte sie den Schriftsteller wegen sexueller Belästigung angezeigt und damit eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die zum Tod von Klosters geliebter kleiner Tochter führte.
Ist nun der Schriftsteller ein genialer Mörder? Oder leidet Luciana unter Wahnvorstellungen infolge von Schuldgefühlen? Martínez zelebriert ein kunstvolles literarisches Vexierspiel, in dem die Wahrheit nichts weiter ist als eine, so scheint es schließlich, ziemlich irrelevante außerliterarische Kategorie. Wie als Gegenkonzept dazu setzt Claudia Piñeiro in „Ganz die Deine“ darauf, dass die Wahrheit früher oder später zwangsläufig zum Vorschein kommen muss. Eine eifersüchtige Ehefrau übernimmt hier die Erzählerrolle. Zufällig sieht Inés Pereyra mit an, wie ihr Ehemann versehentlich seine vermeintliche Geliebte tötet. Heimlich beseitigt sie alle Spuren, die ihn mit dem Verschwinden der Nebenbuhlerin in Verbindung bringen könnten. Fortan sind wir einen ganzen Roman lang Zeugen, wie Inés sich selbst und der Umwelt etwas vormacht. Denn während sie selbst glaubt, durch ihren selbstlosen Einsatz den Gatten wieder an sich binden zu können, pflegt dieser eine leidenschaftliche Affäre mit der jüngeren Cousine der Toten. Doch ewig kann das doppelte Spiel nicht verborgen bleiben.
Piñeiro spielt in einer anderen literarischen Liga als Martínez, steht der Unterhaltungsliteratur deutlich näher. Doch ihr Blick auf die unerschöpflichen Fähigkeiten des Menschen, anderen Menschen Böses zu wollen, ist nicht minder unbestechlich. Zudem unterfüttert sie die Selbstsucht, Heuchelei und Herzlosigkeit ihrer Protagonisten mit einem so boshaften Humor, dass dadurch auch in den Lesern einige der niedersten Instinkte geweckt werden. Denn auch Schadenfreude kann Spaß machen.
KATHARINA GRANZIN
Guillermo Martínez: „Der langsame Tod der Luciana B.“. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2008, 199 Seiten, 17,95 Euro. Claudia Piñeiro: „Ganz die Deine“. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2008, 191 Seiten, 14,90 Euro