Aufstieg und Fall der Oligarchen

Der Wirtschaftserfolg autoritärer Staaten wie Russland und China ängstigt den Westen. Doch die Geschichte lehrt: Auf lange Sicht sind Demokratien auch ökonomisch im Vorteil

In China müsste auf den Exportboom jetzt der Konsum folgen. Doch die Führung scheut das Risiko Die Karibikkolonien waren den USA an Wohlstand voraus. Doch dann verpassten sie die Entwicklung

Moskau baut, rund um die Uhr. Der Weg zum Roten Platz führt an Planen und Gerüsten vorbei. Presslufthämmer knattern, Scheinwerfer tauchen die Baustellen noch um Mitternacht in grelles Licht, und am Morgen lässt sich die Moscow Times kaum unter der Tür des Hotelzimmers hervorziehen. Das liegt nicht am schlanken Politikteil, sondern an der dicken Immobilienbeilage. Bestätigt sich ausgerechnet in Russland die einst von Ronald Reagan propagierte Trickle-down-Theorie, der zufolge neuer Wohlstand von den Spitzen der Gesellschaft bis in die unteren Schichten durchsickere?

In der Mittelschicht kommt der durch Öl- und Gasexporte ins Land geschwemmte Rubel-Reichtum jedenfalls langsam an. Und viele Russen setzen darauf, dass sie als Nächste an der Reihe sind. Der Grund für diesen Optimismus heißt Putin. Ausländische Banker, Unternehmensberater und Investoren sprechen im vertraulichen Gespräch freimütig über das demokratische Defizit im neozaristischen Russland. Aber wichtiger als ein neuer Anlauf zu mehr Demokratie sei für das Land derzeit Stabilität, Stabilität, Stabilität.

Russland ist nur ein Beispiel für den neuen Trend zur autoritär gesteuerten Staatswirtschaft. Im aktuellen „Bertelsmann Transformation Index“ (BTI) kommen die Experten der Denkfabrik aus Gütersloh zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sich seit dem Jahr 2003 zwar in den meisten der untersuchten 125 Transformationsländer die Wirtschaftsleistung kontinuierlich verbessert habe, der Wandel zur Demokratie jedoch stagniere. Dies gelte besonders für „defekte Demokratien“ wie Russland oder Venezuela – und natürlich für China, in der Bertelsmann-Studie als Autokratie klassifiziert. Pekings Modell einer Marktwirtschaft ohne politische Öffnung inspiriere die Eliten anderer asiatischer Länder zur Nachahmung – in Vietnam und in Bangladesch ebenso wie auf den Philippinen und in Thailand.

Erleben wir gerade den Rückwärtsgang der Weltläufe? Das Ende von Francis Fukuyamas Ende der Geschichte? Versiegt der Demokratisierungselan, den Samuel Huntington schon als „dritte Welle der Demokratisierung“ feierte und deren letzte Brandung die nur teilweise erfolgreichen Revolutionen in Georgien, Kirgisien und der Ukraine darstellten? Das Selbstbewusstsein des Westens, gründend auf der Überzeugung einer alternativlosen Entwicklung zum globalen Erfolgsduo von Marktwirtschaft und Demokratie, ist angekratzt. Dass autokratische Regime mit hohen Wachstumsraten auftrumpfen, sich mit multimilliardenschweren Staatsfonds an westlichen Unternehmen beteiligen oder gar zu ihrer Übernahme ansetzen, steigert die Verunsicherung. Doch gegen düstere Befürchtungen über den ökonomischen Niedergang des Westens und fortschreitende Demokratieverluste im Rest der Welt sprechen theoretische Argumente – und empirische Fakten.

Zunächst zur Theorie: Der türkisch-amerikanische Ökonom Daron Acemoglu erforscht seit Jahren die Systemkonkurrenz von marktwirtschaftlicher Demokratie und staatswirtschaftlicher Autokratie. Seine Ergebnisse geben zu einem naiven Geschichtsoptimismus ebenso wenig Anlass wie zu einem fatalistischen Demokratie-Pessimismus. Der Professor des Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat untersucht, warum oligarchische Gesellschaften mitunter ökonomisch erfolgreicher sind als Demokratien – und unter welchen Bedingungen es dennoch früher oder später zur Demokratisierung kommen kann.

Einigt sich der Machtzirkel einer Oligarchie auf niedrige Steuern und geringe Eintrittshürden für neue Unternehmer, dann wird diese Gesellschaft laut Acemoglu zunächst stärker wachsen als eine Demokratie, die durch höhere Steuern und mehr Umverteilung in ihrer Effizienz gebremst wird. Doch weil sich die Branchen, die Wachstum und Wohlstand treiben, im Zeitablauf ändern, sei die Oligarchie nur relativ kurze Zeit im Vorteil. Denn grundsätzlich könne eine Demokratie neue Chancen für Wachstum und Wohlstand schneller erkennen und nutzen.

Zur Illustration seiner These verweist Acemoglu auf die unterschiedlichen Entwicklungen in den karibischen Plantagenkolonien und den nordöstlichen Bundesstaaten der USA. Die oligarchischen Kolonialgesellschaften der Karibik gehörten im 17. und 18. Jahrhundert zu den reichsten Orten des Planeten. Doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts gerieten sie immer mehr ins Hintertreffen. Während Unternehmer in den USA in die Industrialisierung investierten und den Handel intensivierten, setzten die Plantagenbesitzer zu lange auf das Erfolgsmodell der Vergangenheit. Aber Rohrzucker und Rum konnten im 19. Jahrhundert den Wohlstand nicht mehr sichern.

Wie sieht es mit den Fakten aus? In China wird der Anfang vom Ende der Überholspur sichtbar: Der Leitindex der Börse in Schanghai hat seit Jahresbeginn rund 30 Prozent seines Werts verloren, die steigende Inflation dürfte das Wirtschaftswachstum bald annullieren. Und die über drei Jahrzehnte verfolgte Strategie des exportgetriebenen Wachstums steht auf der Kippe: Es wird immer teurer, die Landeswährung durch Intervention an den Devisenmärkten künstlich so billig zu machen, dass sie den Weltmarkterfolg der eigenen Fabriken sichert. Um den Binnenmarkt als zweite Stütze der Produktion zu entwickeln, müsste dem Exportboom jetzt der Konsumrausch folgen. Doch Deng Xiaopings „Bereichert euch!“ nach dreißig Jahren durch die Losung „Kauft ein!“ zu ergänzen, ist riskant für Staatschef Hu Jintao. Kann man die Konsumbereitschaft der chinesischen Mittelschicht fördern, ohne ihr politisches Selbstbewusstsein anzufachen?

Auch Russland stößt an Grenzen: Seine Exporteinnahmen beruhen zu 90 Prozent auf dem Verkauf endlicher Ressourcen – Öl, Gas, Erze. Anders als in kleinen Petro-Diktaturen reichen die Rohstoffrubel aber selbst bei den derzeitigen Höchstpreisen nicht aus, um den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung nachhaltig zu steigern. Die Planer im Kreml wollen die Wirtschaft daher schnell diversifizieren. Milliardenschwere Programme zur Entwicklung des Tourismus, der Petrochemie, der Automobil- und Luftfahrtindustrie laufen an. Eine Schicht leistungsfähiger Unternehmer lässt sich aber nicht herbeidekretieren. Die einzige Entwicklungschance – so schrieben kürzlich Ökonomen der russischen Akademie der Wissenschaften – liege in mehr politischen Freiheiten und einer echten Oppositionspartei. Andernfalls werde der Reichtum des Landes nur in die Hände der Putin-Clique „umverteilt“, aber nicht vermehrt.

Das russische Szenario erinnert stark an die Karibik vor 200 Jahren: Auch im 21. Jahrhundert wird es nicht ausreichen, nur auf einige wenige Exportgüter zu setzen – auch wenn diese heute nicht mehr Rohrzucker und Rum, sondern Öl und Gas heißen. Vielleicht wird in Moskau ja auch deshalb so rastlos gebaut. Weil jeder den Boom nutzen will, solange es ihn noch gibt.

NILS AUS DEM MOORE

Fotohinweis:Nils aus dem Moore ist Volkswirt und Journalist. Er leitete zweieinhalb Jahre das Wirtschaftsressort des Magazins „Cicero“ und arbeitet jetzt als Finanzwissenschaftler im Berliner Büro des Forschungsinstituts RWI Essen.