: Schrei nach Liebe
Erhört! Tokio Hotel stehen auf Platz 5 der US-Charts. Nicht mit irgendeiner Single, sondern mit ihrem Album „Scream“. Sollten wir die Boyband aus Magdeburg jetzt nicht langsam mal ernst nehmen?
VON ARNO FRANK
Es ist offiziell. Die Gruppe Tokio Hotel aus Magdeburg, hierzulande von der seriösen Kritik eher belächelt als bejubelt, hat die Vereinigten Staaten von Amerika erobert. Im Sturm. Oder in einem „Blitzkrieg“, wie US-Journalisten das gerne nennen.
„Es ist offiziell“, urteilte der gediegene Rolling Stone über „Scream“, diese englischsprachige Wiederveröffentlichung der besten Songs der beiden bisherigen Tokio-Hotel-Alben „Schrei“ (2005) und „Zimmer 483“ (2008): „Diese Typen sind die größte deutsche Bubblegum-Neo-Glam-Goth-Emo-Boyband. Aller Zeiten.“ Und die noch gediegenere New York Times war nach einem Konzertbesuch völlig aus dem Häuschen: „Wenn dieser Gig so ein erstaunlicher Genuss war, dann wegen Bill Kaulitz, der, mit ein bisschen Glück, für den Rest dieses Jahres junge Amerikaner fesseln und begeistern wird.“
In dieser Woche nun erreichten Tokio Hotel mit „Scream“ Platz fünf der US-Rockcharts. Zwar schafften es zuvor schon andere deutschsprachige Künstler in die US-Top 10; man denke nur mit Schaudern an Singles von Nena, Giorgio Moroder, Falco, Milli Vanilli oder den Scorpions. Aber ein ganzes Album als Bestseller am wichtigsten Musikmarkt der Welt? Nein, solches ist vor Tokio Hotel noch keinem deutschen Popexport gelungen. Rrrrammstein schafften es mit Ach und sprichwörtlichem Krach gerade mal in die Top 50. Und selbst ein Robbie Williams schaffte es gar nicht, sosehr er sich mit seinem Swing-Album auch anbiedern mochte.
Was ist da los? Was bedeutet es für das Bild der deutschen „Kulturnation“ in der Welt? Müssen wir jetzt alle noch einmal gründlich Tokio Hotel hören? Müssen wir nicht. Und auch, was los ist, wäre schnell geklärt: Tokio Hotel machen – zum richtigen Zeitpunkt, mit druckvollem Marketing und professionellen Songwritern im Hintergrund – durchaus soliden, emotional geladenen und international anschlussfähigen Rock für zum Auf-dem-Bett-Liegen-und-sich-schlecht-Fühlen (das entsprechende Genre gibt’s schon länger und nennt sich derzeit „Emo“), mit Bill Kaulitz (18) als kalkuliert weibisch auftretendem Sänger, der sich vor allem jungen Mädchen als Seelenverwandter und Weltschmerzkumpel anbietet. Außerdem spricht er „eyes“ wie „ice“ aus und klingt in amerikanischen Ohren offenbar nicht nur süß, sondern auch irgendwie teutonisch schick.
Apropos teutonisch: Neben den Rockcharts werden übrigens auch die US-Klassikcharts derzeit von einem Deutschen dominiert, auch wenn sie der Franzose Pierre-Laurent Aimard eingespielt hat, die „Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach.