: „Kollaboration kann viele Motive haben“
Der Historiker Hillel Cohen hat untersucht, mit welchen Methoden Israel seine arabischen Staatsbürger überwachte. Sein Buch „Gute Araber“ basiert auf brisanten Dokumenten und avancierte in Israel unerwartet zu einem Bestseller
HILLEL COHEN ist Historiker an der Uni Jerusalem. Bei Archivstudien stieß er auf Akten, die das System der Überwachung der Araber in Israel durch die Sicherheitsbehörden offen legten. Er schrieb „Army of Shadows“ über die Kollaboration zur Mandatszeit (1917–1948). „Aravim tovim“, so der hebräische Titel seines neuen Buchs, wird als „Good Arabs: The Israeli Security Services and the Israeli Arabs“ 2009 auf Englisch veröffentlicht.
taz: Herr Cohen, Ihr Buch „Good Arabs“ ist bereits das zweite, in dem Sie sich als Historiker mit dem Thema der palästinensischen Kollaboration im Nahostkonflikt beschäftigen. Was interessiert Sie so daran?
Hillel Cohen: Wenn ich in den vergangenen Jahren mit Palästinensern sprach, stand das Thema der Kollaboration immer irgendwie auf der Tagesordnung. Ich hatte den Eindruck, dass es eine entscheidende Rolle für die palästinensische Gesellschaft spielt, aber niemand hatte jemals etwas darüber geschrieben – vielleicht weil es zu „heiß“ war. Jedenfalls wollte ich der Frage weiter nachgehen.
In Ihrem Buch „Good Arabs“ verwenden Sie Akten der Sicherheitsbehörden, unter anderem mit den Namen zahlreicher arabisch-israelischer Kollaborateure. Wie sind Sie an dieses brisante Material geraten?
Ehrlich gesagt, ich hatte einfach Glück. Hunderte von Akten wurden aus Versehen freigegeben, und ich habe sie durch puren Zufall im Archiv gefunden. Inzwischen komme ich nicht mehr an diese Quellen heran – sie wurden wieder klassifiziert.
Wie konnte es passieren, dass solches Material freigegeben wird? Waren die Behörden unaufmerksam?
Tatsächlich war es genau so. Derjenige, der das Material durchsehen und entscheiden sollte, ob es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, war nicht professionell genug. Ihm war einfach nicht klar, was er da vor sich hatte.
Ein Glücksfall für einen Historiker …
Wie heißt es doch: Gute Historiker verwenden alte Quellen auf innovative Weise. Weniger begabte Historiker müssen nach neuen Quellen suchen … Mir war jedenfalls klar, dass dies eine wirkliche Gelegenheit ist.
Viele arabische Israelis haben demnach mit den Sicherheitsbehörden kollaboriert. War das im Grundsatz nicht schon vorher bekannt?
Sicher, aber bislang waren viele Dinge lediglich als Gerüchte und Anschuldigungen im Umlauf. All das auf einmal schwarz auf weiß dokumentiert zu sehen, mit Namen und allem, ist schon etwas anderes. Darüber hinaus erscheint mir aber noch etwas wichtig: Unter den arabischen Israelis zu dieser Zeit gab es Leute, die sagten: „Wir sollten den Staat nicht bekämpfen, sondern mit ihm kooperieren.“ Dieses Dilemma der arabisch-israelischen Gesellschaft habe ich in meinem Buch letztlich untersucht.
Israel hat diese Haltung mit unterschiedlichen Mitteln für sich zu nutzen versucht, schreiben Sie – etwa durch Bestechung oder Erpressung. Waren alle Kollaborateure in diesem Sinn zwangsverpflichtet?
Es gab „professionelle Kollaborateure“, und es gab Leute, die hin und wieder Informationen übermittelt haben und das aus den verschiedensten Gründen. Es ist kein Schwarz-Weiß-Bild: Kollaborateure auf der einen Seite und Nationalisten auf der anderen. Eher war es ein Spektrum. Außerdem konnten sich Motivationen im Laufe der Zeit ändern. Es ist ein ziemlich grauer Bereich, aber immerhin ist er nicht mehr völlig schwarz.
Man konnte also arabisch-nationalistisch gesinnt sein und dennoch für den israelischen Geheimdienst arbeiten?
Es gab einen arabischen Bürgermeister aus Galiläa, der auch auf der Gehaltsliste des Geheimdienstes stand. Als es in seinem Dorf eine Demonstration gegen das Kriegsrecht gab, stoppte er sie. Seine Erklärung lautete: „Durch radikalen Widerstand werden wir nur noch mehr Hass und noch mehr Diskriminierung von Seiten der Juden hervorrufen, und das ist gegen unsere Interessen.“ Diese Aussage zeigte mir, wie diese Leute dachten – oder zumindest, wie sie argumentierten, nämlich gut und nachvollziehbar. Mit anderen Worten: Nicht alle Kollaborateure waren Leute, denen es bloß um das Geld ging.
Sie wollen sagen, sie taten es aus Überzeugung?
Wie gesagt, die Motivationen konnten ganz unterschiedlich sein. In einem anderen Fall habe ich ein Dokument aus dem Jahr 1951 gefunden. Darin ging es um arabische Israelis, die in das Westjordanland geschickt wurden – das damals jordanisch war –, um bestimmte Palästinenser zu ermorden. Allein die Tatsache, dass ich dieses Dokument vor mir liegen hatte, mit allen Namen und Daten – was für eine Schlamperei von dem Archiv! Die Frage, die ich mir stellte, war aber: Was hat diese Leute dazu gebracht, so etwas zu tun? Vielleicht war es das Geld, aber ich denke, es muss noch eine andere Erklärung geben. Etwas, das in der Natur des Menschen liegt: die Neigung, sich dem Starken anzuschließen. Sie wissen doch: Manche solidarisieren sich mit dem Underdog, und manche unterstützen den Starken. Palästinensischer Nationalismus hat für diese Gruppe von Leuten jedenfalls keine Rolle gespielt.
„Good Arabs“ wurde in Israel zum Bestseller. Wie kam das?
Das war wirklich überraschend für mich. Ich glaube, es ist das erste hebräische Buch in Israel, das aufgrund der arabischen Leser ein Bestseller geworden ist. Eine Menge Leute wollten wissen, was in ihren Dörfern geschehen war. In den arabischen Dörfern wissen die Leute in der Regel, wer Informationen an den Geheimdienst weitergibt, aber nun konnten sie es zum ersten Mal schwarz auf weiß lesen – und zwar landesweit. Wobei ich lebende Personen nicht enttarnt habe.
Wie haben die arabischen Israelis darauf reagiert?
Natürlich war das für sie erst einmal unangenehm. Daher kam es auch nicht überraschend, dass es negative Reaktionen und Verschwörungstheorien gab, nach dem Motto: Mein Buch sei Teil des Versuchs, die nationale Bewegung zu unterminieren. Manche Reaktionen waren aber auch positiv, zum Beispiel: Wir müssen die Vergangenheit aufarbeiten, ohne unangenehme Wahrheiten zu verschweigen. Und tatsächlich wurde ich in viele arabische Gemeinden eingeladen, um über mein Buch zu diskutieren.
In Ihrem Buch haben Sie nicht nur über Kollaboration geschrieben, sondern auch über den Widerstand, den viele Araber der israelischen Herrschaft entgegensetzten.
Ja, dieser Widerstand ging hauptsächlich in den 1950er- und 1960er-Jahren von der Kommunistischen Partei aus, zusammen mit den Nationalisten. Darauf sind die Araber sehr stolz, und das ist vielleicht auch ein Grund, warum das Buch so ein Erfolg wurde.
Bis 1966 unterlagen die in Israel verbliebenen Palästinenser dem Kriegsrecht, heute machen diese „arabischen Israelis“ fast zwanzig Prozent der Bevölkerung von Israel aus. Wie würden Sie heute, 60 Jahre nach der Staatsgründung, ihre Situation beschreiben?
Es gibt die gleichen Grundeinstellungen wie damals: Widerstand oder Kooperation. Die schweigende Mehrheit fühlt sich als Palästinenser und ist stolz darauf, Teil der arabischen Nation zu sein; im Alltag kooperieren sie jedoch mit den Juden, und die allermeisten Leute in Israel unterstützen diese Kooperation auch. Die arabischen Abgeordneten in der Knesset wiederum gebärden sich in höchstem Maße nationalistisch und kritisieren Israel bei jeder Gelegenheit. Viele Leute meinen, dass diese Abgeordneten die Meinungen der Araber nicht wirklich repräsentieren. Auf der anderen Seite werden sie demokratisch gewählt, und zwar immer wieder. Offenbar stehen sie also doch für Sichtweisen, die im Denken der Leute tief verwurzelt sind.
INTERVIEW: CHRISTIAN MEIER