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Archiv-Artikel

Rettet der Zoo die Arten?

DAG ENCKE, 42, Zoochef in Nürnberg, ist der prominenteste Zoodirektor Deutschlands – und umstritten, weil bei ihm eine Eisbärin ihre Jungen fraß. Encke sieht seine Tiere als Botschafter für Klima- und Artenschutz.

JA

Zoos sind unersetzbar, wenn es um den Versuch geht, die Artenvielfalt zu retten – auch wenn sie dieses Ziel natürlich allein nicht erreichen können. Zoos sind einer der stärksten öffentlichen Resonanzkörper für das Thema Tier- und Artenschutz. Und sie steuern entscheidendes Know-how zur Bewahrung der Arten bei. Keine andere Institution hat so viel Wissen darüber, wie man aus winzigen Restbeständen einer Tierart wieder vitale Populationen erzeugt.

Zoos hatten aufgrund ihrer erfolgreichen Zuchtprogramme die Hoffnung, eine Arche Noah werden zu können. Sie dachten, alle bedrohten Arten erhalten und für die Zukunft bewahren zu können. Mittlerweile sind unzählige Tierarten für immer verschwunden. Die Arche kentert – doch die Zoos sitzen immerhin noch mit einer beachtlichen Zahl rettbarer Arten im Beiboot.

Dafür gibt es gute Gründe. Die Zoos sind nicht nur Artenspeicher, sondern auch Wissensspeicher. Ein Großteil unseres heutigen Kenntnisstands über die Biologie von Wildtieren basiert auf Erkenntnissen, die in Zoos gewonnen wurden. Keine andere Institution erreicht mit dem Thema Biodiversität ein so großes Publikum wie Zoos – weltweit rund 600 Millionen Menschen.

Deshalb sind Zoos ein wichtiger Baustein im weltweiten Aktionsplan zur Erhaltung der Biodiversität. Ihre Arbeit ist untrennbar verbunden mit der Arbeit im Freiland, und umgekehrt sind viele Freilandprojekte untrennbar verbunden mit Zoos.

Zootiere sind Symbole für die Biodiversität und stehen für die Schutzbedürftigkeit der Natur: Das Zootier ist der Botschafter der Biodiversität. Der Eisbär steht für Klimaschutz, Gorilla und Orang-Utan stehen für die Rettung der Regenwälder, der Delphin für Meeresschutz. Die Begeisterung der Menschen für diese charismatischen Zootiere ist der Schlüssel dafür, das Bewusstsein für die ungeheuren Verluste zu schärfen, vor denen wir stehen.

Zootiere fungieren als Schirmart (umbrella species) für Lebensräume. Der Schirm, den sie über Lebensräume spannen, funktioniert etwa so: In der Mongolei haben Zoos Urwildpferde wiederangesiedelt, wo sie ausgerottet waren. Dort spielt die nun auf 115 Pferde angewachsene Herde vielleicht keine spürbare ökologische Rolle. Aber für diese Ansiedlung wurden 90.000 Hektar Land unter Schutz gestellt – von dem alle anderen Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, profitieren. Für Pferde geben Menschen Geld und engagieren sich. Für Nagetiere, Spinnen und Insekten, die ökologisch gesehen jedes Großtier in den Schatten stellen, wird sich nie eine vergleichbare Lobby bilden. Diese „kleinen Ökoriesen“ werden durch den Schutz der großen Charismatiker von der Zerstörungskraft des Menschen abgeschirmt.

Das Zootier ist aber auch ein großer Umweltpädagoge. Erst beliebte Stars im Zoo können in den Köpfen der Menschen ein komplexeres Verständnis der Natur wecken. Sie erziehen Menschen zu multikausalem Denken. Ein Beispiel: Die Überlebensnotwendigkeit der Akazien, ihre unersetzliche ökologische Funktion, findet erst Beachtung, wenn man es anhand der Giraffe deutlich macht. Ohne die Aufforstung zerstörter Savannen und Wüsten wäre eine Ansiedlung von Giraffen sinnlos.

Viele Zootiere geben leuchtende Beispiele, wie aus verloren geglaubten Tierarten wieder stabile Zoopopulationen und hernach sogar wieder stabile Wildpopulationen entstanden sind. Prominente Vertreter dieser Erfolgsgeschichten sind unter anderen die Wisente in Osteuropa, Säbel- und Mendesantilopen in Nordafrika, Goldene Löwenäffchen in Südamerika, Przewalskipferde in Ostasien, Bartgeier in Mittel- und Südeuropa.

Dennoch: für den Baiji, den chinesischen Flussdelfin, kam jede Hilfe zu spät. Im Dezember 2006 wurde er als functionally extinct kategorisiert, ausgelöscht.

Dennoch spielt der Zoo eine wichtige Rolle bei der Rettung der Biodiversität – durch vier Aufgaben. 1. als Erholungsstätte für eine zunehmend urbanisierte Bevölkerung; 2. als umweltpädagogische Bildungseinrichtung; 3. als Forschungseinrichtung für tiermedizinische und Grundlagenforschung an Wildtieren; 4. als Naturschutzzentrum, dessen Wirken durch die vorgenannten Aufgaben definiert ist und durch In-situ-Arbeit, also Freilandprojekte, ergänzt werden muss.

Die wenigsten Zoobesucher können die Vielschichtigkeit der Arbeit eines modernen Zoos während ihres Besuchs sehen. Aber der Eintritt für den Zoo ist auch eine Investition in den Erhalt der Biodiversität. DAG ENCKE

NEIN

Ein Zoo ist ein Wirtschaftsunternehmen, das mit dem Zeigen eingesperrter Wildtiere Geld verdient. Es ist ein netter Effekt, wenn dieses Unternehmen nebenbei Umweltbildung betreibt. Oder durch Erhaltungszucht die ein oder andere seltene Tierart vor dem Aussterben bewahrt. Trotzdem muss man fragen dürfen: Können nur Zoos Erhaltungszuchten gefährdeter Arten leisten? Und kann die Käfigzucht grundsätzlich etwas am Problem des Artenschwunds ändern?

Die Zootierhaltung hat eine sehr unrühmliche Vergangenheit. Noch im 19. Jahrhundert reichte sie bis zum Zurschaustellen pittoresk aussehender Eingeborener aus Übersee. Zoos waren immer auch Orte der Qual. Dort warteten möglichst exotische und publikumsträchtige Tiere in engen Käfigen auf ihr Ende – unter den Augen gaffender Besucher. Es war kein Zufall, dass die letzten Exemplare aussterbender Arten oft in Zoos vegetierten. Für Zoodirektoren und Tierfänger war es ein gutes Geschäft, die Letzten einer Art hinter Gitter zu bringen.

Natürlich wäre es im Interesse der Zoos gewesen, alle Tiere möglichst lange am Leben zu erhalten und zu vermehren. Doch dies hätte Platz, Pflegeaufwand und Know-how erfordert. Noch heute werden Wildfänge von Korallenfischen, Vögeln und nicht zuletzt Delfinen in Zoos „verbraucht“. Der Grund: Eine Nachzucht der Tiere gelingt nicht oder ist schlicht zu teurer.

Natürlich stimmt auch das: Viele Tierarten pflanzen sich heute in Zoos fort. Ohne die engagierte und aufwendige Erhaltungszucht in Zoos wären einige Tierarten längst von diesem Globus verschwunden. Der Europäische Wisent ist ein Musterbeispiel für erfolgreiche Erhaltungszucht. Von 57 überlebenden Zootieren im Jahr 1923 ist der Bestand mittlerweile auf 3.000 angestiegen. Mehrere hundert besiedeln heute wieder in Freiheit ihre ehemaligen Heimatwälder. Das ist schön.

RAINER BORCHERDING, 41, arbeitet als Biologe und Umweltpädagoge für die Schutzstation Wattenmeer. Seit seiner Jugend beschäftigt er sich mit Pflanzen und Tieren, die er aber vorzugsweise in freier Wildbahn beobachtet.

Doch täglich sterben etwa 100 Tierarten aus. Heute, morgen, und übermorgen wieder. Alle Erhaltungszuchten der Welt zusammen beschützen derzeit etwa 500 Arten von Wirbeltieren vor dem Aussterben – 1 Prozent aller Wirbeltiere. Gemessen an der Gesamtzahl der verschwindenden Arten, ist die Erhaltungszucht freilich nur ein Tröpfchen auf den heißen Stein.

Vor allem bunten Tropenvögeln wird die Ehre zuteil, in Gefangenschaft einige Jahre vor dem Aussterben bewahrt zu werden. Egal ob Zoo oder Hobbyzüchter, man möchte sein Produkt vorzeigen und Lob für die Arbeit ernten. Graue Mäuse aller Art und wirbellose Krabbeltiere gehen unterdessen ungezüchtet in die ewigen Jagdgründe ein, egal wie faszinierend oder genetisch außergewöhnlich sie sein mögen. Erhaltungszucht ist ein unsystematisches Hobby wohlmeinender Privatleute. Für Zoos ist sie eine Mischung aus Marketing und Gutmenschentum – aber garantiert nicht Ziel des Zoobetriebs.

Jede Wildtierzucht hat ein grundsätzliches Problem: Nur ständige natürliche Auslese sichert die Überlebensfähigkeit einer Art im Freiland. Im Käfig ist es nicht menschenmöglich, zu entscheiden, welche Exemplare in der Natur herausselektiert worden wären. Man pflegt auch Kümmerlinge durch, die in der Natur besser verstorben wären – besonders wenn es nur noch 20 Individuen einer Art gibt. An diesem Punkt beginnt der genetische Weg vom Wild- zum Haustier. Käfigtiere entfernen sich genetisch und im Verhalten mit jeder Generation von dem, was sie als Wildtier waren.

Von der Rettung einer Art kann man nur sprechen, wenn sie nach absehbarer Zeit in ihren natürlichen Lebensraum zurückkehren kann. Dies trifft auf Wildtiere wie den Wisent zu, bei denen ungezügelte Verfolgung das Verschwinden in freier Natur verursacht hat. Ist die Jagd beendet, können sie zurückkehren. Erhaltungszucht ist nur sinnvoll, wenn parallel Biotopschutz erfolgt. Wer sollte bis zum Jüngsten Tag die Pflegekosten für einen skurrilen Käfighocker bezahlen, wenn keine Aussicht besteht, die Käfigtür je wieder zu öffnen?

Vielleicht Zoos, weil bunte Tiere gut fürs Geschäft sind. Aber ohne ihren Lebensraum ist eine Art nur ein Schatten ihrer selbst – eine ausgestopfte Mumie im Museum. Nachhaltige Beiträge zum Erhalt der Biodiversität leisten nur Projekte zum Schutz tropischer Wälder und anderer Naturlandschaften. Jede Aktivität, die von der Notwendigkeit des Biotopschutzes ablenkt, ist kontraproduktiv. Danke für den Wisent – aber Artenvielfalt kann nur durch Biotopschutz erhalten werden, nicht im Zoo.

RAINER BORCHERDING