: Gnadenlos zufälliger Tod
Der amerikanische Historiker James Sheehan erzählt von den Gewaltexzessen im 20. Jahrhundert und der erfolgreichen Pazifizierung Europas nach den Weltkriegen
VON JENS HACKE
Europas Weg im 20. Jahrhundert lässt sich zweifellos als Läuterungsgeschichte erzählen. Nach den Gewaltexzessen der Weltkriege entschieden sich die westeuropäischen Staaten unter der Schirmherrschaft der USA für Integration und Kooperation, und auch insgesamt sorgte die Konstellation des Kalten Krieges für eine dauerhafte Befriedung.
Die Sicherung von Frieden und Freiheit in Europa haben die Politiker der älteren Generation so häufig beschworen, dass man derlei nur noch als routinierte Rhetorik zur Kenntnis nimmt. Doch nun hat der amerikanische Historiker James Sheehan eine souverän komponierte und in bester angelsächsischer Tradition erzählte Geschichte der Gewalt vorgelegt, um die Entwicklungsschritte der erfolgreichen Pazifizierung Europas genauer zu erklären. „Where Have All the Soldiers gone?“ lautet der treffende Titel der Originalausgabe.
Kriegsgegner hat es zu jeder Zeit gegeben, nur fehlte es ihnen lange an Erfolg. Als Kontrapunkt einer europaweit militärisch geprägten Kultur, die sich in der Verherrlichung soldatischer Werte, in Paraden, Symbolen und Heldenkulten manifestierte, existierte am Vorabend des Ersten Weltkrieges eine heute fast vergessene Friedensbewegung. Es gab genügend Intellektuelle, die fest vom Ende militärischer Konflikte ausgingen und dafür neben moralischen vor allem rationale Gründe anführten: Krieg lohne sich nicht, er sei im zivilen Zeitalter weltweiten Kommerzes nicht rentabel, sondern ein Störfaktor.
Diese Einsicht wie auch die vielfach geäußerten Warnungen vor dem destruktiven Potenzial neuer Militärtechniken konnten den millionenfachen Tod in den Grabenkriegen nach 1914 nicht verhindern. Politiker, Militärs und Soldaten gerieten in die unvorhergesehene Situation eines mechanisierten Defensivkrieges, in dem „die Geschütze ihre Arbeit mit gnadenloser Zufälligkeit“ taten. Eigentlich hatten sie allesamt ganz andere, nämlich schnell und mobil geführte Kampfhandlungen erwartet. Das Fehlen der Siegesaussicht beförderte schließlich auf allen Seiten Maßnahmen extremer Kriegführung – ob Giftgaseinsätze, Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, Versenkung von Ozeandampfern oder auch erste Luftangriffe auf Großstädte.
Bis 1945 war Europa ein „Kontinent der Gewalt“, wie Sheehan in den ersten beiden Dritteln seines Buches eindrucksvoll darlegt. Die Verrohung der politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit ist ohne die millionenfache Kriegserfahrung nicht zu erklären. Faschismus und Kommunismus brachten „den Krieg in die Heimat, domestizierten seine Gewohnheiten und Gefühle, institutionalisierten seine Brutalität und Aggression“, auch weil ihre leidenschaftliche Anhänger „nicht mehr an die Möglichkeit einer liberalen Ordnung, an eine Welt des Handels und der Planung, der friedlichen Proteste und parlamentarischen Debatten“ glaubten.
Politische Frustration und Irrationalismus ergriffen die Gesellschaften Europas, vor allem natürlich das besiegte Deutschland. Auf verlorenem Posten standen diejenigen, die wie der britische Politologe MacIver 1926 „ein Ende der Epoche nationaler Kriege“ als „vernünftige Schlussfolgerung“ aus der Geschichte annahmen. Auch die Vertreter des Appeasement klammerten sich an die Hoffnung der Vernunft. Dabei lag der Fehler nicht darin, 1938 in München eine friedliche Lösung der Sudetenkrise zu suchen. Es war nach dem scharfen Urteil Sheehans „von krimineller Verantwortungslosigkeit, nicht darüber nachzudenken, was zu tun sei, falls Hitlers Eroberungshunger dadurch nicht gestillt würde“.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die Europäer die Fähigkeit, aber auch den Willen zur Großmachtpolitik verloren. Statt nationaler Größe waren nun Wohlstand, soziale Stabilität und Sicherheit die akzeptierten politischen Ziele. Es war Gorbatschows Einsicht, dass Gewalt und die Androhung von Gewalt nicht länger ein Instrument der Außenpolitik sein dürften. Die neuerliche Rückkehr Russlands zu einer Politik der Stärke, die wir nicht nur in den martialischen Militärparaden seines Nachnachfolgers erkennen können, belehrt über den vorübergehenden Charakter solcher Überzeugungen. Gewalt und Krieg schienen aus Mitteleuropa verbannt, sind aber im Zuge der Globalisierung in den europäischen Verantwortungsbereich zurückgekehrt.
Es war Robert Kagan, der die Amerikaner als so kriegerisch wie Mars und die Europäer als friedlich wie Venus identifizierte. Auch Sheehan traut der EU den Aufstieg zur Ordnungsmacht nicht zu. Zwar hat man in der gewaltsamen Auflösung Jugoslawiens während der 1990er-Jahre mit Schrecken die Rückkehr von Krieg, Massenmord und ethnischen Säuberungen erfahren. Aber dies hat keine Abkehr von postheroisch-zivilen Verhaltensmustern bewirkt. Dazu mangelt es an einem wirksamen politischen Willen, um die europäische Selbstbezogenheit zu überwinden.
Allein deshalb bleiben die USA zur Weltmacht verdammt. Anders als Kagan teilt uns Sheehan diesen Befund über das „alte Europa“ nicht abschätzig mit – zumal Europas Gewaltabstinenz etwas Neues ist. Er wirbt vielmehr für die friedliche Expansion der „weichen Macht“ Europas. Das ist sympathisch. Doch auf welche Weise soll europäische „Soft Power“ Effekte zeitigen? Es ist jedenfalls unwahrscheinlich, dass George W. Bushs Nachfolger sich allein durch die Kraft des besseren Arguments vom unilateralen Kurs abbringen lässt.
James J. Sheehan: „Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden“. Aus dem Englischen von Martin Richter. C.H. Beck, München 2008, 315 Seiten, 24,90 Euro